2023

22.12.2023

Ein Jahr ist gar nichts. Ein loses Blatt im Wind, ein Atemzug. Einmal weggesehen, schon ist es vorbei.
Eis zu Knospen, Knospen zu Blätter, Wasservögel im See, Ernte, Stoppeln auf dem Feld und im Gesicht.
Der Schnee rundet die Kanten ab, verwischt Unterschiede, lässt sie verschwinden, macht sich alles gleich. Es gibt keine Strassen mehr, keine Wege. Erst der Tau bringt die Dinge wieder hervor, das blosse Sein geht weiter.

365 Sonnenaufgänge, 365 Sonnenuntergänge. Tod eines Verwandten, Geburt eines Bekannten. Triefende Nase, gebrochener Zehe. Liebe und Trauer gehen miteinander im Park spazieren, ich schwimme im Mittelmeer, ich schwimme im Atlantik. Die chinesische Uhr an der Wand tickt im Vierteltakt, die Zeiger beschreiben ihre Kreise. Lärm übertönt alle Geräusche, sie erwachen bei Nacht in der Stille. Tick, tack, tick, tack, tack, tick. Das Regelmässige wird zur Routine, die Routine zerbricht die Gegenwart. Die Sonne bricht über die Welt und fängt dort wieder an, wo sie gestern aufgehört hat, sie scheint.
Morgentassen füllen sich mit Kaffee, werden geschrubbt, in den Schrank gestellt und tauchen wie die Sonne beim kommenden Frühstück wieder auf.

Ein Jahr, 365 Tage, Tage von wie vielen? Wochen von wie vielen?
Monate werden zu Jahren, fünfzig, nein es werden bereits dreiundsechzig.
63 Jahre voller heimtückischer Tage, voller Freude und Leid, voller unbeantworteter Fragen, voller Antworten die ich gar nicht will. Ich flüchte aus der Gegenwart, ich flüchte aus dem Dorf, in dem ich geboren bin.

Juden sehen sich als das ausgewähltes Volk an, die Muslime schauen hinab auf ihre Gebetsteppiche. Die christliche Welt hat seine Religion verloren. Fremde Mächte, die nicht mal so fremd sind, überschreiten die Grenzen und sie kommen nicht einfach um die Sehenswürdigkeiten zu bewundern. Sie zerstören, so wie Touristen die fremden Kulturen durch ihre Anwesenheit zerstören. Geld ist Macht, wer die Wirtschaft kontrolliert, beherrscht die Welt.
Die Welt ist aber weder der Suez- noch der Panamakanal. Doch nach den Schuldigen am Schwarzen Meer, am Mittelmeer und am Persischen Golf kommen die vom Mensch geschaffenen Wasserstrassen an die Reihe. Einer muss ja schuld sein, dass das Leben nicht mehr lebenswert ist. Die Macht des Wassers eignet sich da bestens, denn Wasser sucht sich seinen Weg wie sich das Geld seinen Weg sucht.

Die spanische Sprache kennt nur ein Verb um sowohl das Warten wie die Hoffnung auszudrücken, esperar! Warten um zu hoffen, hoffen beim warten! Auf was?
Reglos warten und hoffend harren, dass etwas Erwartetes und Unerwartetes eintritt. Glück in einen Lottoschein des Gordo legen, ihn enttäuscht zerknüllen, da nichts gewonnen. Hoffen auf etwas besseres, das von alleine nie kommen wird. Warten auf eine Besserung, die nie eintrifft. Sich abfinden mit dem Los das man glaubt gezogen zu haben. Ja keine eigene Schuld am eigenen Versagen und am eigenen Glück. Die Schuld liegt bei anderen, nur nicht bei mir. Dabei wurde uns alles gegeben, alles um unser Leben selber zu gestalten und selber zu geniessen. Keine Flucht nach links, keine Flucht nach rechts, kein Zurück. Die Gegenwart liegt in unseren Händen und mit der Gegenwart gestalten wir unsere Zukunft.

Meine Geliebten hatten Recht, der Böse war ich. Mit meinen Ehefrauen war es anders, ich liebte sie, sie liebten mich nicht. Sie liessen mich stehen, nahmen mir alles. Dies wiederum gab mir die Möglichkeit die leer gebliebenen Schubladen neu zu füllen. Nicht Alkohol, nicht Drogen, nicht ein Hund weder Katzen gehören in diese Leere. Lass nicht zu, dass das Hoffen zur Gewohnheit wird. Lass die Türe einfach etwas geöffnet, versuche nichts mit Gewalt, der Tag wird kommen und die Sonne bricht über die neue Welt und fängt dort wieder an, wo sie vor Tagen, Wochen bis Jahre aufgehört hat zu wärmen. Ich hatte mein Leben so sehr geliebt, ich musste erst lernen es zu vergessen, neu aufzugleisen, auch wenn ich dazu 19 Tage und 500 Nächte wie Joaquin Sabina benötigte.
Doch die Sonne kam hinter den Bergen hervor. Unerwartet, unverhofft und ungewollt. Gespenstisch und unvereinbar mit diesem Ort, mit diesem Tag mit dieser Stunde. Ich suche den Schatten, fürchte mich vor dem Glanz des Sonnenlichtes, ihrer Helligkeit und Wärme. Der Schatten wandert, das Sonnenlicht gewinnt. Ich lasse mich erwärmen, erhellen und ich glänze im Licht. Das ungewollte sucht mich heim. Ich lasse es geschehen.

Sie ist jung und beweist ihre Dankbarkeit sehr demonstrativ. Ich mache es mir bequem und ich geniesse, ich geniesse die Gegenwart wie ein Märchen so süss. Wiedererlangtes Paradies, denke ich. Ich streife meine Schuhe von mir. Sie fummelt an meinen Knöpfen und reisst mir die Kleider vom Leib. Feucht und liebevoll erwartet sie mich mit glänzenden Augen. Ihre Haut schwelt wie ein Vulkan. Ich bin voller Erwartung. Es ist ein Traum, ein Fieberanfall. Kein gewöhnlich sterblicher kann diese unbeschreiblichen Gefühle verstehen. So viel gilt es zu erforschen, Gebirge, Täler und Spalten, neue Kontinente, uralte Flüsse und Gewässer.

Ich soll verzichten, ich soll zurücktreten. Gegeben habe ich alles und ein bisschen mehr. Bekommen habe ich nichts und ein bisschen weniger. Vorgehalten wird mir, dass ich lebe, ich mich zum eigenen Richter ernenne und mich mit unschuldig strafe. Meine Umwege zu meinen Verwandten und Bekannten werden als Eigennutz abgestempelt. Kein Dank erwarte ich, kein Dank bekomme ich. Sicher gibt es Söhne die mich heute brauchen, die mich gestern vergassen. Dank der modernen Welt bin ich da, auch wenn uns Berge, Wälder und Meere trennen. Trennen uns keine Meere, Wälder und Berge bin ich da, aber wie es der Zufall will werde ich nicht gebraucht. Was mache ich dann hier zu dieser unpassenden Zeit, warten auf was, auf dass was geschieht und hinsiechen in der Zeit. Zum Staub werden wie die Dinge um mir. Nein, ein Vogel Phönix steckt in mir und er steht auf aus der glühend heissen Kohle, reckt seine Schwingen, reckt seinen Hals, erhebt seinen Kopf, torkelt vor sich hin und stürzt sich ins Leere voller Lust und Tatendrang. Nenn es Eigensucht, nenne es Eigenliebe, ich nenne es Unwissen, ich nenne es Neid.
Jeder ist sein Glückes Schmied!

366 Sonnenaufgänge, 366 Sonnenuntergänge liegen vor mir. Tod eines Verwandten, Geburt eines Kindes. Brennende Augen, verstauchte Hand. Liebe und Trauer gehen miteinander im Wald spazieren, ich schwimme im See, ich schwimme im Fluss, ich schwimme im Mittelmeer.