Alessandro Baricco Seide

16.09.2023

Um zu leben, kaufte und verkaufte Hervé Joncour Seidenraupen. Wir schreiben das Jahr 1861, Flaubert schreibt an seinem Buch Salammbô, elektrisches Licht gibt es noch keins und Abraham Lincoln, auf der anderen Seite des Atlantik, ist in einen Krieg verwickelt, deren Ende er nicht absehen kann. Hervé ist 32 Jahre alt. Kauft und verkauft. Seidenraupen.

Hervé kaufte seine Seidenraupen auf der anderen Seite des Mittelmeeres, in Syrien und Ägypten. Jedes Jahr anfangs Januar ging er auf seine Einkaufsreise. Er fuhr tausendsechshundert Seemeilen über Meer und achthundert über Land. Kaufte Raupen ein und fuhr achthundert Kilometer über Land und tausendsechshundert Meilen über Meer zurück nach Südfrankreich, wo er normalerweise am ersten Sonntag im April zur Hauptmesse eintraf. Wieder zu Hause arbeitete zwei weitere Wochen und den Rest des Jahres ruhte er sich aus.

In den 1870er Jahren vernichtete eine Plage die ganzen Seidenraupen und niemand wusste wieso. Es wurde Zeit, dass Hervé eine längere Reise unternahm, um die Raupen direkt in Japan zu kaufen, wo es die qualitativ beste Seide der Welt gäbe. Japan? Wo liegt genau dieses Land?
Zu dieser Zeit am Ende der Welt. Eine Insel, bestehend aus verschiedenen Inseln und seit über 200 Jahren abgeschirmt von der Rest der Welt.

Hervé reiste mit 80.000 Goldfranken und Namen dreier Personen, ein Chinese, ein Holländer und ein Japaner. Er überquerte die Grenze bei Metz, durchquerte Württemberg und Bayern, kam nach Österreich und nahm hier den Zug über Wien und Budapest bis Kiew. Mit dem Pferd ritt er die zweitausend Kilometer durch die russische Steppe, überquerte den Ural bis zum Baikal See.
Es gibt Menschen, die nennen es Meer. Folgte dem Amur Fluss bis zum Ozean, wartete im Hafen bis ein holländischer Frachter sich an die Westküste Japans wagte. Zu Fuss durchquerte er halb Japan bis Shirakawa und wartete auf seinen chinesischen Geschäftspartner. Hara Kei erwartete ihn am Boden sitzend in einem schwarzen Kleid. Er trug keinen Schmuck, sein einziges Zeichen der Macht war eine Frau, die zu seinen Füssen lag. Die junge Frau hörte der Erzählung still zu und ihr Blick haftete auf seinen Lippen.

Auf die Frage, wer er sei, erzählte Hervés sein ganzes Leben, wie er noch niemanden sein Leben preisgegeben hatte. Der Handel wurde abgeschlossen. Wieder zurück in Frankreich traf er am ersten Sonntag am April zur Hauptmesse ein. Wie war das Ende der Welt? Unsichtbar!

Hervés unternahm weitere Reisen nach Japan und sehnte sich auf ein Wiedersehen mit der stummen mädchenhaften Frau. Bevor er Japan wieder verlassen musste, ging er ins öffentliche Bad. Als er auf dem Marmorboden lag, wurde ihm ein feuchtes Tuch auf die Augen gelegt. Als er es entfernen wollte, hielten ihn zwei Hände zurück. Es waren nicht die alten Hände der alten Waschdamen. Warmes Wasser wurde über seinen Körper gegossen, ein leichter Seidenschal streifte seinen Körper. Frauenhände wuschen ihn. Hervés regte sich nicht. Die Frauenhand liess etwas in seine Hand gleiten, schloss sie zur Faust und verschwand so leise, wie sie gekommen ist. Hervés blieb still liegen, horchte in die Stille und nahm sich langsam das nasse Tuch von den Augen. Zurück in seinem Zimmer öffnete er die Faust, Ein winziges Stück Papier mit ein paar Ideogramms lag darin, geschrieben mit schwarzer Tinte. In Nimes wohnte eine Japanerin, welche die wenigen Zeilen übersetzte. Kehre zurück oder ich werde sterben!

Bei seinem kommenden Besuch suchte er tausendmal ihre Augen und tausendmal erwiderte sie seine Blicke. Eine Art trauriger Tanz. Spät in der Nacht verliess er den Raum und schaute ein letztes Mal nach ihr. Sie schaute zurück mit stillen Blicken auf eine Distanz von Jahrzehnten. Er hatte es auf seinem Heimweg nicht eilig und als er in sein Zimmer trat, wartete sie und ein junges Mädchen auf ihn. Sie nahm seine Hand, führte sie zärtlich über ihre Haare, über die Augen und ihre Lippen. Sie führte seine Hand in die Hand des Mädchens, hielt sie so lange fest, dass sich die Hände nicht lösen konnten und verschwand. Hervés hatte dieses Mädchen vorher nie gesehen und um ehrlich zu sein, bekam er sie auch diese Nacht nicht zu sehen. Im Zimmer ohne Licht spürte er leidenschaftlich ihren Körper und fühlte ihre Hände und Lippen. In der Dunkelheit war es unwichtig, dieses junge Mädchen zu lieben und nicht sie. Kurz vor Sonnenaufgang erhob sich das Mädchen, kleidete sich in ihren weissen Kimono und verschwand.

Hervés erhielt mit der Post einen senffarbenen Umschlag. Darin waren sieben Blätter alle vollgeschrieben mit japanischen Ideogramms. Hervés schaute sich die Blätter lange an. Die Zeichen erinnerten ihn an die Spuren von Vögeln im Sand. Es konnten aber auch Zeichen sein, Asche einer verbrannten Stimme.

Im Kapitel 59 übersetzt die Japanerin aus Nimes die sieben Seiten. Worte, die ich hier an dieser Stelle weder zusammenfassen kann, noch wiedergeben will.

Ich habe das Buch auf spanisch gelesen und meine deutschsprachige Zusammenfassung aus der spanischen Ausgabe abgeleitet. Ich war in Pontevedra auf der Suche nach einem anderen, mir empfohlenen Buch, was vergriffen ist. So stöberte ich in einem Secondhand und der Verkäufer empfahl mir die Seide, welche ich an einem Abend las.

Das Buch ist auf Deutsch und als Taschenbuch im März 2017 im Atlantik Verlag, Hamburg, übersetzt von Karin Krieger erschienen.