Gute alte Zeiten

06.01.2024

Früher war alles besser! Die arme Jugend von heute!
Früher war es nicht besser als heute und die Jugend von heute ist nicht arm. Auch sie fühlen sich wohl, denn sie sind in dieser heutigen Zeit geboren und aufgewachsen und haben gelernt das Beste aus ihrer Freizeit und Schulbildung zu machen, wie wir es in unserer Zeit gelernt haben und unsere Eltern in der ihrigen.

Meine Eltern sind kurz nach dem Ersten Weltkrieg geboren und wurden zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zu Jugendlichen und erlebten ihre frühen Jahre als Erwachsene in der Kriegszeit. Sie lernten den Verzicht kennen, die Angst zu überwinden und heirateten im Jahre 1945 voller Zuversicht und Hoffnung. Sie gründeten eine Familie und kämpften für ihre Gegenwart und Zukunft. Sie verabschiedeten sich aus ärmlichen Verhältnissen, zogen in eine eigene Wohnung, genossen die eigenen vier Wände mit eigenem Badezimmer, eigener Küche, fliessend Wasser und Heizung in allen Zimmern. Mein Vater hatte eine sichere Arbeit und blieb seiner Lehrfirma bis zur Pensionierung treu. Er identifizierte sich mit der Firma, welche sein Leben bedeutete. Meine Eltern entdeckten das Reisen, Ferien in der Schweiz, erste Auslandsreisen mit dem Charterzug nach Italien, erste Flugreisen nach Nordafrika und Griechenland. Das harte Leben der Kindheit und der Jugend waren vorbei aber nicht vergessen. Es ging stetig bergaufwärts. Sie erlebten die technischen Errungenschaften aus erster Hand. Sie hatten Kühlschrank in der Küche, Fernseher im Wohnzimmer, Radio im Esszimmer und elektrischer Wecker im Schafzimmer. Im Wohnhaus gab es eine Waschküche, im Aufzug ging es in die vierte Etage. Wochenendausflüge mit der Bahn, Ausflüge mit dem Auto, Essen und Trinken in Restaurants. Fertiggerichte wie Suppen und Stocki vereinfachten das Leben der Hausfrau, dazu kam das elektrische Bügeleisen, Schönheitscreme und der Modekatalog von Schild. Mit dem Bus ging es im Halbstundentakt in die Stadt, die Warenhäuser boten Luxus und viele Sachen die man gar nicht braucht. Von der EPA zur ABM und weiter zu Nordman. Migros und Coop ersetzen den Metzger, den Bäcker und den Milchmann. Die Post kommt jeden Tag und das Telefon zu Hause klingelt stündlich. Vater bringt kein Geld mehr in der Tüte, es liegt auf der Bank. Zahlungen werden bargeldlos und erste Aktien werden gekauft. Das Leben war herrlich, die Gesundheitspflege garantiert. Versicherungen wurden unterschrieben, sie lebten im Wohlstand.

In diesen Wohlstand wurde ich rein geboren. Es fehlte an nichts, ich war wohlbehütet. Eine Familie wie im Bilderbuch. Vater arbeitet, Mutter kümmert sich um Haushalt und Kinder. Spielen im freien, schwimmen im See. Ausflüge über das Wochenende, Ferien am Meer. Flugreisen nach Marokko, Skiferien in Grächen. Mit dem Fahrrad zur Schule, Skirennen aus dem fernen Japan mitten in der Nacht im Fernsehen. Weihnachtsbaum im Wohnzimmer, Osterhase im Versteck. Entdeckungen am laufenden Band. Neuheiten welche die Eltern ablehnten, erste Auflehnungen gegen das System. Volksmusik war out, englischer Pop war in. Liebesromane waren für alte Leute, Hermann Hesse zeigte den Weg. Auch Lehrer waren fehlerhaft, mit dem Motorrad in die Stadt. Stammtisch der Jugend, lange Haare und Joint. Eigenes Zimmer in der WG, Loslösung der Eltern, Loslösung aus dem System. Missverständnisse wechselten sich ab mit den Pflichten des Lebens. Lehrzeit, Militärzeit, Liebeszeit. Wir lebten in der Blüte politischer, sexueller und musikalischer Revolutionen ohne sie wahrzunehmen aber wir machten mit, wir lebten sie in vollen Zügen. Wir wollten entdecken, wollten frei sein, lasen Kafka, Miller und Bukowski. Albert Camus durfte nicht fehlen wie die englische Pop und Rock Musik. Wir hörten Reagge wie auch Blues. Gingen in die Bar und in die Disco. Kleideten uns nach den 1960-ern und fuhren R4 und Döschwo. Wir staunten über die DDR und Prag, liebten Paris und London und die Freiheit.
Dann schnappte uns das bürgerliche Leben und wir wurden brav oder brachen aus. Aber wir lebten unser Leben und unsere Zeit war die beste Zeit seit jeher, denn es war unsere Zeit. Wir profitierten vom erarbeiteten Wohlstand unserer Eltern und von den Kämpfen der Studenten und Arbeiter knapp vor unserer Zeit. Wir entdeckten, was es noch zu entdecken gab und waren und sind hoffentlich auch heute noch glücklich. Unsere Eltern verstanden teilweise unsere Welt nicht mehr, wie wir ihre Welt nicht verstanden und heute die Welt unserer eigenen Kinder nicht zu verstehen glauben.

Für meine Eltern war der Schwarz-Weiss-Fernseher eine Errungenschaft, für mich die Videokassette Freiheit und für meine Söhne Netflix eine Selbstverständlichkeit.
Das Wandtelefon und das wöchentliche Gespräch mit der Tochter waren für meine Mutter Freiheit.
Ich kannte das Schnur-Telefon, das schnurlose Telefon und hatte ein Nokia. Meine Kinder besitzen Smartphone, fahren Elektroroller und spielen an der Konsole. Wir lernten über Sex aus Büchern, heute gibt es Webseiten dazu.
In der Schule lernen sie über die Weltkriege und Proteste in Europa. Lernen alte Schriftsteller kennen und hören aus einer Serie Musik die meine Jugend prägte. Ich schmunzle über Emil Steinberger, wie meine Eltern früher mit ihm lachten. In vielen Sachen gab es kaum Änderungen, die alten Werte wiederholen sich und werden teilweise als Neu empfunden.

Meine Kinder leben ihr Leben und möchten nichts missen, wie ich nichts aus meiner Vergangenheit missen möchte und meine Eltern in der guten alten Zeit leben durften und dabei glücklich waren. Jede Zeit ist die beste Zeit für die, die zu leben wissen.