Landsteiner

05.02.2023

Was ich in der Kulturhalle Konstanz in Rothenburg, Luzern, erleben durfte, war keine Buchlesung, kein Hörbuch Vortrag, kein Hörspiel, nein, es war einmalig, wunderbar, unvergleichlich und bleibt für immer unvergesslich. Es tun mir alle Kunstbegeisterten leid, die an diesem Abend nicht dabei sein konnten. 

Eigentlich hat alles so angefangen, wie jede Buchlesung anfängt. Man bezahlt den Eintritt, sucht sich einen Platz mit Blick auf das noch leere Lesepult. Thomas Glatt der Kunst- und Kulturkommission begrüsst die anwesenden Zuhörer, stellt den heutigen Schriftsteller kurz vor und erklärt, wie der Ablauf mit Lesung, Fragen, Gedankenaustausch zwischen und am Schluss der Lesung sein wird. Aber da kommt bereits das erste "aber". Heute Abend wird alles anders sein! Thomas Glatt ruft seine geladenen Gäste auf die Bühne. Drei Herren in einfacher dunkler Kleidung betreten die Bühne, grüssen ins Publikum. Der eine setzt sich ans Klavier, der Zweite kneift sich seine Geige unter das Kinn und der Dritte, nein der Dritte liest nicht vor, er singt.

Dabei gilt die Überraschung nicht nur dem unverhofften Gesang zu feiner Streich- und Klaviermusik, sondern dem Sänger für sich (Frank Landsteiner, alias Niklaus Mäder) und dessen Nachrichten, die er singend ins Publikum trägt: 

"Geh ich durch die Strassen, geh ich aufgeregt, gelassen?
Seh ich mich in all den Massen untergehn?
Hat das Glück mich schon verlassen oder steh ich noch gewissermassen
in der Gunst erhofften Wiedersehns?
Was oben ist ist, höher unten, und die Welt mal kunterbunter,
mal schwarz und weiss mitunter grau in grau.
Ich werd nicht schlau, ich werd nicht weise, nur gesetzter, 'n bisschen leiser,
und das Reimen liess ich schlauerweise sein.
Es geht ein Mensch von Haus zu Haus.
Und wenn er nicht mehr geht - ist es aus!"

Mir wird umgehend klar, vor uns steht die Band Landsteiner. Sie ist Wirklichkeit geworden. Mit dem Geruch nach Alkohol und Zigarettenqualm sind sie direkt aus dem Buch "über Nacht" von Beat Portmann zu uns auf die Bühne gestiegen!

In seinem vierten Roman "über Nacht", erschienen in Edition Bücherlese Luzern, führt Beat Portmann den Leser durch seine atemlose Geschichte mit philosophischen Pausen durch die Bars, Kneipen und Wohnungen schlafloser Zeitgenossen Luzerns. Mit Witz und Tempo erlebt der Leser eine Nacht, in der sich nicht nur das Leben der Hauptperson Nora Gossenreiter, verändert, sondern auch die des Lesers selber.

Ich kannte den Autor nicht persönlich, als ich das Buch zum ersten Mal lies, nicht als ich es zum zweiten Mal las. Aufgrund des Altersunterschiedes ist es auch nicht möglich, dass wir uns während der beschriebenen Nacht getroffen haben. So bin ich auch keine der erwähnten und im Buch beschriebenen Personen. Aber ich war dabei. Ich war dabei während dieser Nacht und vieler weiteren Nächte während meinen frühen Jahren in und um Luzern. In mir ist ein lebender Teil von Nora, ich war aber nie ein Musiker wie Mathias, ich bin nicht der Barbesitzer Richard, nicht sein Kellner Mahalingam, nicht Ezra und auch kein Frank Landsteiner. Ich bin ich versuche mich zu erkennen, "über Nacht" habe ich mich verändert, schlechter und besser.

Wir zogen von Kneipe zu Kneipe, von Wohnung zu Wohnung, setzten uns in den 2CV zum rauchen, reden und küssen. Einen grossen Teil der damaligen Kneipen gibt es noch heute, Barbati, DownTown und Magdi in der Eisengasse, Storchen und Pfistern am Kornmarkt. Nicht vergessen die zahlreichen Kneipen an der Baslerstrasse. Die Namen haben überlebt. Ich bin mir sicher, auch Menschen wie Frank und ich haben überlebt und in allen den aufgezählten Kneipen streifen auch heute noch und am liebsten Donnerstagabend neue Landsteiner, geboren Ende des 20. Jahrhunderts, geboren Anfang des laufenden Jahrhunderts herum.

Das Haus von Vater Landsteiner liegt für mich auf der äusseren Seite der Museggmauer, an der Friedbergstrasse, zu erreichen vom Kantonsspital her. Dort wohnte eine damalige Freundin und so manche Nacht sassen wir mit ihren Eltern in der Küche, tranken und diskutierten. Die Haustüre war für Freunde immer offen wie auch das Gehör der Eltern. Verständnis gegenüber uns Jungen mit all unseren Sorgen und Ideen zur Verbesserung der Welt. Unseren Träumen von Liebe und Frieden, wir die zweite und dritte Generation der Beatles, der Rolling Stones. Fans von Bob Marley, Cliff Richard, von Pop, Rock, Reggae und alternativer Musik wie Nirvana, Bowie, Bryan Ferry bis The Cure.

Die bergige Strasse bin ich im Morgengrauen mit meinem Döschwo gefahren. Auf der Suche nach dem Ende der Nacht irgendwo im Entlebuch. Auf der Suche nach dem neuen Morgen irgendwo im Rontal. Geparkt haben wir an Busstationen, auf frisch gemähten Wiesen. Irgendwo und nirgendwo stand ein Haus im Nebel mit einem einsam leuchtenden Licht. Menschen begegneten uns und luden ein zum Café. Leben noch vor Sonnenaufgang, neu geboren nach Sonnenaufgang.

Die Lesung aus seinem jüngsten Buch beginnt Portmann ab der ersten Seite. Ohne Übergang, direkt nach dem ersten Lied. Erst dann heisst er das Publikum willkommen, spricht schwyzerdütsch. Leitet über zum zweiten Teil der Lesung. Frank philosophiert über ein Geschöpf, der uns alle überwacht, beschreibt ihn als alten Mann mit Glatze und Hornbrille.
"Ich hab in letzter Zeit viel über die Ausdehnung des Alls nachgedacht, holt Frank Nora aus ihren Gedanken. Weisst du, was mich dabei beunruhigt - ja wahnsinnig macht? Sags mir. Da draussen könnte jemand sein, der uns beobachtet. Weisst du, einfach nur da ist und beobachtet. Und wir wissen von nichts. Wer sollte denn dieser Jemand sein? Was weiss ich? Irgendein glatzköpfiger Alter, der uns über die Brillengläser hinweg mustert. An wen bloss erinnert mich das, sagt Nora gespielt nachdenklich. An Doktor Freud? Freud hatte doch keine Glatze. Dann muss es ein anderer Österreicher sein. Du meinst meinen Vater? Frank sieht sie mit offenem Mund an."

Dies ist dann auch das Stichwort zum zweiten Lied, Beobachter. Die Musik erinnert mich etwas an die Liedermacher des Austropop begonnen mit Reinhard May, Konstantin Wecker, Ambros, Danzer, Hirsch, Ens, Fendrich bis hin zu Falco. Alle Songs werden begleitet durch Klavier (David Bokel) und das Geigenspiel von Beat Portmann.

Weitere Lesungen aus dem Buch folgen. Beat singt bei der entsprechenden Passage sogar das zitierte Lied, diesmal auf Englisch. Zwischen Szenenwechsel verschiedener unter sich unterschiedlichen Buchpassagen spielt die Band immer wieder auf und fesselt das Publikum.

"Das Träumen lassen wir sein - nein!
Gestern sah ich dich im Morgen, heute sehe ich dich im Jetzt.
Heute wollen wir fröhlich sein, anders sein, ganz sein!"

Ein fröhlicher Liedertext zu einer etwas traurigen Musik. Vor der Zugabe stellt uns Beat Portmann endlich auch seine Kollegen vor und auch er selber wird noch namentlich vorgestellt.
Nach der Darbietung frage ich mich, wer war eigentlich zuerst die Band Landsteiner
oder das Buch "über Nacht"?

Entscheiden Sie selber, das Buch gibt es in jeder Buchhandlung unter der IBAN Nr. 978-3-906907-26-0 zu kaufen. Beim Autor können Buch und CD direkt auf seiner Webseite bestellt werden.