Moriz von Wattenwyl 1863

16.01.2023

Meine Zeit in Algerien von leider nur 10 Tagen neigt sich dem Ende zu. Es gilt Tlemcen mit der Bahn zu verlassen und nach einem zweistündigen Aufenthalt in Oran mit dem Zug zurück in die Hauptstadt zu fahren. 10 Stunden dauert die gesamte Reise mit der Bahn. Mit dem Bus oder einem Grand-Taxi würden die etwas über 500 Kilometer schneller zurückgelegt, ich bevorzuge aber die Bequemlichkeit der Bahn und lese in den Reisebeschreibungen eines Schweizers, der vor 160 Jahren die Gegend von Tlemcen bereiste.

Emanuel Moriz von Wattenwyl de Watteville
Zwei Jahre in Algerien (1863 / 1864)
erschienen 1877 in Bern, Druck und Verlag von K.J. Wyss
Buch Seite 377 bis 406: Aufenthalt in Tlemcen:

Tlemcen ist ein orientalisches Mährchen in einem Blumentopf; eine grüne Bergoase zwischen Stein und Sand; eine Perle in Smaragden gefasst; die ächteste orientalische Stadt Algeriens. Die Franzosen horsten in den hohen Kasernen wie wandernde Zugvögel. Kabylen, respektive Berber, gibt es dort beinahe keine. Die ganze Geschichte, der ganze Glanz Tlemcens ist ächt orientalisch, ächt arabisch ganz mit dem Koran eingewandert. Nur die zahlreichen Kuruglis, die in Tlemcen eine Hauptrolle spielen, sind blos von mütterlicherseits semitischen Stammes, indem ihre Väter türkische Soldaten waren, welche arabiscche Frauen nahmen. Tlemcen ist ein reizender Aufenthaltsort; die Stadt selbst, eine der ältesten von Algerien, ist wie alle arabischen Städte schlecht und unregelmässig gebaut und die Strassen sind eng, winkelig und unsauber. Hingegen sind die zahlreichen Moscheen sehenswert und einige davon auffallend schön.

Die andalusische Geschichte machte aus Tlemcen, was sie heute an historischen Bauten zu bieten hat. Sicher gibt es weitere interessante Orte in Algerien, die aber eine andere Geschichte mit sich bringen und vielleicht von deren Kultur her nicht so dem europäischen Reisenden gefallen wie die aus Andalusien.
Die hier beschriebenen engen Strassen wurden teilweise von den Franzosen begradigt, dies nicht nur wegen des aufkommenden Autoverkehrs, sondern gerade gezogene Strassen sind besser zu kontrollieren und können gegen den Besatzer nicht als Hinterhalt genutzt werden. Was leider die über 150 Jahre seit dem Aufenthalt Wattenwyl geblieben ist, ist der Schmutz, der nicht nur die Gassen verschandelt, sondern auch die so herrlichen Monumente verunziert.

Auf zwei Stunden im Umkreis ist alles ein Olivenwald, von zahlreichen Quellen und Bächen bewässert und mit alt-arabiscchen und römischen Ruinen förmlich übersäet. Aus den reichen Obstgärten, welche von der Orange bis zur Erdbeere alle möglichen Fruchtarten bieten, glänzen die weissen Landhäuser der Kuruglis hervor. Alle diese Herrlichkeiten liegen auf dem unteren Abhange eines schroffen Felsengebirges und bieten mit der unendlichen Aussicht auf die sich im Norden und Osten ausbreitende unermessliche Ebene einen zauberlichen Anblick dem erstaunten Auge dar. Meine zwei arabischen Kaufherren führten mich in ein Hotel sehr zweiten Ranges, wo ich aber doch gut aufgehoben war und besonders angenehme Tischgesellschaft fand. Als ich meine Maulesel bezahlt und etwas ausgeruht hatte und gesättigt war, streifte ich mit meinem Begleiter Chalit in der Stadt herum und wir verweilten längere Zeit in einem maurischen Kaffeehaus, gegenüber meinem Hotel, wo ich recht interessante Gesellschaften machte. Es fällt in Algerien den Franzosen immer auf, dass die meisten fremden Reisenden mit Vorliebe sich dem arabischen Elemente der Bevölkerung zu nähern suchen, um dessen Leben und Gebräuche kennen zu lernen. Für die französischen Kolonisten sind die Eingeborenen nichts als sâles Arabes oder sâles Bédouins, und sie rümpfen gewaltig die Nase, wenn ein Européen sich mit diesen Leuten abgibt. Die eitlen Franzosen denken in ihrer Oberflächlichkeit nicht daran, dass man nicht nach Afrika reist, um Franzosen zu suchen, die man auf einer kürzeren und billigeren Reise nach Paris viel angenehmer und leichter und in brillanteren Exemplaren sehen kann, als in einem Städtchen der Algérie, sondern dass gerade das Studium von ächt afrikanischen Ländern und Leuten die fremden Reisenden nach Afrika treibt. Das hindert natürlich nicht, dass sich jeder Fremde glücklich schätzt, zu seinem täglichen Umgang gebildete französische Gesellschaft zu finden, und diese wurde mir in Tlemcen in unverhofftem Masse zu teil.

Auf den kommenden Seiten stellt Wattenwyl seine französischen Bekanntschaften einzeln vor. Die Liste geht vom Notar über den Kirchenvorsteher, dem Beamten beim Telegrafenamt, Ärzte, Polizeikommissare, Grossgrundbesitzer, usw. Also die Crème de la Crème des damaligen Tlemcen. Auch scheint es, dass er mehr mit den französischen Freunden unternimmt als mit Einheimischen.

Heutzutage sieht man leider (für die Bevölkerung) fast keine Touristen. Die fünf Tage, die ich mit Einheimischen in der Stadt und Umgebung verbringen durfte, sah ich einen Alleinreisenden Franzosen und eine Gruppe von 6 Reisenden, die unterwegs in den Süden waren und sich kurz den orientalisch anmutenden Bahnhof von Oran besichtigten. Der Bahnhof wurde im modernen arabisch-maghrebischen Stil in Form einer Moschee von 1908 bis 1913 erbaut.
Auf den kommenden Seiten widmet sich der Autor der Geschichte der Stadt angefangen von den Herrschern Karthagos hin bis zum Osmanischen Reich, welches trotz der Besetzung durch Frankreich zu dieser Zeit noch Truppen in Tlemcen stationiert hielt.

Nach einigen Tagen schon verliess ich mein Gasthaus und miethete mir ein hübsches Zimmer in einem kleinen Häuschen hinter der Meschuar, nahe dem Stadttor. Ich hatte von meinem Balkone eine schöne Aussicht auf die Gärten und Berge gegen Süden und auf das heilige Dorf Bu-Meddin. Die Stadt ist höchst unregelmässig gebaut. Der Mittelpunkt des heutigen Tlemcen ist iimmer noch das alte Königsschloss Meschuar, dessen feste Thürme, Wälle, Mauern und Ringgraben noch gut erhalten sind. Der Meschuar ist inner diesen Wällen eine Stadt in der Stadt. Jetzt ist dort beinahe alles modern. Grosse Kasernen, Spitäler und Regierungsgebäude ragen hoch über die alten Mauern empor. Auf der nördlichen und westlichen Seite des Meschuar zieht sich der Hauptplatz, der zugleich als Promenade dient, dahin. Er wird von grossen Bäumen beschattet und ist mit breiten Trottoirs eingefasst, an welche sich stattliche neue Häuser erheben, in denen sich die besseren französischen Kaffehäuser und hübsche Kaufläden befinden. Dort wohnt die französische Beamtenwelt, die jetzige Aristokratie Algeriens. An diesen schönen Platz folgen die Quartiere der reicheren Kuruglis und der tlemcenischen Juden, die, wie fast überall, die Mohamedaner an Reichtum und an Luxus übertreffen. Auch die reichern Mauren Tlemcens wohnen in der Nähe dieser Quartiere. Der ganze grosse Rest der Stadt besteht in einer Menge kleiner Häuser, von engen Gassen durchschnitten und von der eigentlichen arabischen Bevölkerung, hier "Hadris" genannt, bewohnt.

Wir folgten während einer halben Stunde dem hochgelegenen Wasserkanal und stiegen dann durch einen schattigen Olivenwald zum Dorf hinunter. Bu-Meddin heisst das heilige Dorf. Noch jetzt darf sich kein Christ und kein Jude dort ansiedeln, und bis vor wenigen Jahren durfte sogar kein Ungläubiger den Ort betreten. Jetzt gingen wir frei durch die treppenartigen Gassen und betraten ungehindert die mächtige Hallen der wunderschönen Moschee. Schon das dreibögige Portal ist ein Muster von maurischer Bauart und kunstvoller Steinschnitzerei. Aus den hohen Säulenhallen traten wir zu dem teppichbedeckten Grabmal des berühmten Heiligen. Einfach und erhaben sind Tempel und Grab.