Nicolas Bouvier
Nicolas Bouvier gehört neben seinem Vorbild Ella Maillart und Annemarie Schwarzenbach zu den wichtigen Schweizer Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts. Eines seiner Bücher, Die Erfahrung der Welt, erschienen im Leons Pocket 2004 (Lenos Verlag, Spalentorweg 12, 4051 Basel, 061 261 3414, lenos@lenos.ch, Originalausgabe L'Usage du monde, 1963, sollte jeder Reisende gelesen haben, ob es ihn nun durch die Balkanstaaten, die Türkei und Persien bis nach Japan führt oder er sich einen anderen Kontinent als Reiseziel vorgenommen hat.
Die
Erfahrung der Welt ist der aussergewöhnliche, poetische Reisebericht
über seine erste grosse Reise, die er mit dem Maler Thierry Vernet
unternahm.
In
den Jahren 1953/54 fuhren die beiden Freunde in einem Fiat Topolino
von Genf über Jugoslawien, die Türkei, Iran und Pakistan nach
Afghanistan.
Nicolas
Bouvier
geboren 6. März
1929 in Lancy bei Genf; gestorben 17. Februar 1998 in Genf, war ein
Schweizer Schriftsteller, Reiseautor, Fotograf und Journalist. Mit
seinen Reisebeschreibungen wurde er ein Kultautor dieses Genres.
Schon als 16-Jähriger unternahm er erste Reisen nach Frankreich und
Italien. Nach dem Studium der Geistes- und Rechtswissenschaften in
Genf fuhr er 1953 mit seinem Auto nach Afghanistan. 1955 Weiterreise
nach Japan. 1956 Rückkehr in die Schweiz. In den sechziger Jahren
unternahm er mehrere ausgedehnte Reisen, u.a. nach Japan, China und
Korea. Der Schriftsteller, Fotograf und Journalist publizierte
zahlreiche Bücher.
Thierry
Vernet
war ein in Paris
ansässiger Maler und Illustrator aus Genf. Geboren 1927, er starb
1993 in Paris.
Fiat
Topolino 500 A, Model 1948
Es
mag merkwürdig klingen, aber alles begann mit einer Idee des
italienischen Diktators Benito
Mussolini. 1930 hatte der
Duce den
SenatoreGiovanni Agnelli
zu sich gerufen, um ihm die "unabdingbare Notwendigkeit"
mitzuteilen, die Italiener mit einem preiswerten Auto zu
motorisieren. Der Preis des Gefährts sollte die Summe von 5000 Lire
nicht überschreiten.
Der erste Fiat 500 – in Italien auch liebevoll Topolino genannt (zu deutsch: Mäuschen, aber auch der italienische Name der Comicfigur Mickey Mouse) – wurde in den Jahren 1936 bis 1955 in drei Versionen insgesamt 516.646-mal gebaut. Der Motor des von 1936 bis 1948 produzierten Fiat 500 A leistete mit 569 cm³ 10 kW (14 PS) bei 4000/min. Der Motorblock war so tief eingebaut, dass der dahinter etwas höher liegende Kühler ohne Wasserpumpe (Thermosiphonkühlung) auskam. Weil der Tank vorn unter der Windschutzscheibe lag, brauchte der Wagen keine Benzinpumpe. Der zweifach gelagerte Vierzylinder-Reihenmotor hatte stehende Ventile und Schleuderschmierung.
Routenverlauf
Genf
– Zagreb – Belgrad – Batschka Region – Palanka – Belgrad –
Kragujevac – Nisch - Prilep (Mazedonien) – Saloniki
(Griechenland) – Alexandropolis – Konstantinopel (Türkei) –
Ankara – Bogazkoy - Sungurlu – Merzifon – Ordu – Fatsa –
Ordu Pass - Babali – Giresun – Trabzon – Gümüshane –
Zigana-Pass - Cop-Pass – Bayburt – Erzurum – Hassankale –
iranische Grenze – Maku – Täbris (Aserbaidschan) "längerer
Aufenthalt" - Mijandoah – Mahabad – Mangur Tal – Mahabad –
Täbris – Mijane – Kaswin – Teheran – Kum - Isfahan – Abade
- Schiras – Tacht - Dschamschid, Persepolis – Surmak – Jasd –
Abarku – Jasd – Kerman – Cham – Anar – Rafsandschan –
Kerman – Bam – Faradsch – Nosratabad – Sahedan – Mirdschawe
(Zollposten) – belutschische Wüste – Quetta – Chodschak Pass
–Schaman - Laskur-Dong (afhanische Grenze) – Kandahar – Mokor –
Saraji – Kabul – Hindukusch – Chaiber-Pass (afhanische Grenze)
– Galle
Auszüge aus dem Buch
mit ))meinen Anmerkungen((
Seite
07
Markt in Travnik, Bosnien
Beschreibung des Marktgeschehens
aus dem Brief von Thierry.
))man sollte den Markt von heute mit der vorliegenden Beschreibung vergleichen((
Seite
08
Wir
hatten zwei freie Jahre vor uns und Geld für vier Monate. Unser
Programm war vage, aber bei solchen Unternehmungen ist es das
Wichtigste, dass man überhaupt einmal losfährt. Eine
Reise braucht keine Beweggründe. Sie beweist sehr rasch, dass sie
sich selbst genug ist. Man glaubt, dass man eine Reise machen wird,
dich bald stellt sich heraus, dass die Reise einen macht – oder
kaputtmacht.
Seite
22
Belgrad
ist von einem bäuerlichen Zauber erfüllt. Dabei hat es nichts von
einem Dorf, aber ein ländlicher Geist durchweht die Stadt und
verleiht ihr etwas Märchenhaftes.
Seite
23
...,
denn es scheint mir eine der schlimmsten Seiten der Armut zu sein,
dass sie die Frauen hässlich macht.
)) ich finde, dass die Armut
Frauen hübsch macht, denn sie bleiben natürlich, erfreuen den Mann
mit kleinen Aufmerksamkeiten, wie eine frisch gepflückte Blume im
Haar. Sie tragen keine Schminke, erwecken keine falschen Hoffnungen,
zeigen sich, so wie sie sind.((
Seite
26
....wenige
Gegenstände, an denen wir aber mit Liebe hängen. Die magische Kraft
einer Reise liegt darin, dass sie das Leben reinigt, bevor man es
einrichtet und ausschmückt.
Fiebermücke
Papadatschi ))Tigermücke, kann Viren übertragen((
Seite
28 / 29
orthodoxe
Kirche gegen Embleme der Partei.
Revolutionen
mit ihrer Propaganda zu Schlagworten und Symbolen.
Seite
31ff
Belgrad
Museum, Saal Bildhauer Mestrovitsch, Epoche Kaiser Hadrian
Seite
35
Zigeuner
Seite
36
Der Sommer neigte sich langsam dem Herbst zu.
Gänsemädchen
)) Gänseoma habe ich 2021 noch in Moldawien gesehen((
Seite
43
Einmal
werde ich hierher zurückkommen – wenn es sein muss, rittlings auf
einem Besenstil.
Seite
45
Kragujevac, Region Tschumadja, auf dem Weg nach
Mazedonien:
Mais, Raps, Weizen, Obstgärten, Sliwowitz, Nussbäume
Seite
48
Die
Serben sind unglaublich freigebig und grossmütig, haben den antiken
Sinn der Bedeutung des Festmahls bewahrt.
Seite
49
...kleiner
Betrag...lange Zeit. Wir versagen uns jeden Luxus ausser dem
kostbarsten: Musse.
Seite
50
...durchdringt
uns der Fluss der Reise, und der Kopf wird klar. Gedanken, die nichts
darin zu suchen hatten, verflüchtigen sich; dafür richten sich
andere ein....
Zum Glück dehnt sich die Welt für Schwache wie
mich aus und unterstützt sie.
Seite
54
...die mazedonische Geschichte sich seit 1000 Jahren darin
gefällt, die Völker und die Gemüter durcheinanderzubringen.
Seite
62
...liess
jeder seine mitgebrachte Taube fliegen, wie es hier sonntags Brauch
ist.
Seite
71
Die Reise gibt einem Gelegenheit sich wachzurütteln, aber
nicht die grosse Freiheit. Man findet sich eher mit Einschränkungen
ab, aus seinem täglichen Rahmen herausgerissen, seinen Gewohnheiten
beraubt, auf ein bescheideneres Mass reduziert. Gleichzeitig aber der
Neugier, der Intuition, der Liebe auf den ersten Blick zugänglicher.
Seite
81 ff
Auf
der Suche nach Einkommen.
Seite
86
Das
Nomadendasein macht einem empfänglich für die Jahreszeiten. Man
hängt von Ihnen ab, ...
Seite
91
Die grossen Weiten, die erregenden Gerüche, das Gefühl, noch
die besten Jahre vor sich zu haben, erhöhen die Lebensfreude, wie
die Liebe es tut.
Seite
93
Ich
liege im glitzernden Gras und bin glücklich, dass ich auf der Welt
bin, dass – ja was eigentlich? Aber wenn man so müde ist, braucht
man keine Gründe mehr, um optimistisch zu sein.
Seite
110
...man
beeilt sich, diesen einmaligen Augenblick wie einen leblosen
Gegenstand tief ins Gedächtnis zu versenken, um ihn später wieder
einmal hervorzuholen.
Das eigentliche Gerüst des Daseins besteht weder aus der Familie noch der Karriere, noch aus dem, was andere Leute von einem denken oder sagen, sondern aus einigen Augenblicken, in denen man durch-wallt wird von einem Gefühl, das noch gelassener ist als die Liebe. Das Leben teilt sie uns so sparsam zu, wie es der Schwäche unseres Herzens angemessen ist.
Seite
112
Hier
herrscht die persische Schrift, die nach rückwärts läuft.
In
einer Nacht waren wir aus dem zwanzigsten nachchristlichen
Jahrhundert ins vierzehnte der Hedschra hinüber gewechselt, in eine
andere Welt.
Seite
120
...der
Fanatismus ist die letzte Auflehnung des Armen.
Seite
122
niemals
erscheint die Arbeit verlockender, als wenn man sich gerade
daranmacht. Darum liessen wir sie liegen und zogen aus, um die Stadt
zu entdecken.
Seite
155
Dabei habe ich sie praktisch so gut wie nie betrogen,
abgesehen von ein paar Reiseabenteuer, die mich fast nichts gekostet
haben...
Seite
159
...Sehnsucht nach jungfräulichen Ländern, ...
...man
reist ja, damit sich etwas ereignet und ändert...
Seite
160
Maler Bagramian
))Nairy Baghramian ist eine
iranisch-armenische Künstlerin, 1971, Isfahan((
Seite
169
...uraltes Soiel, bei dem der Geduldige gewinnt. Man liess uns
gewinnen.
Es
hat keinen Sinn, mit der Pistole auf Besuch zu gehen, besonders wenn
man nicht gut damit umzugehen weiss. Wir reisten, um die Welt zu
sehen, nicht um auf sie zu schiessen.
Seite
183
Bestechung innerhalb des Systems, um auf der beruflichen
Leiter weiterzukommen.
))nicht nur hier, sondern in vielen Ländern
so üblich((
Seite
185
Wahlbetrug
Seite
191
Reisende sind etwas anderes. Die Gastfreundschaft schützt
sie, und ausserdem bilden sie eine Abwechslung, ...
Seite
230
Es ist unglaublich, wie gross der Einfluss einer über
fünfhundert Jahre alten, sehr hermetischen Poesie im Iran noch heute
ist und wie beliebt und bekannt die Verse überall sind.
Seite
231
Die Melodie der persischen Sprache ist prachtvoll und die
Sufi-Esoterik genährte Poesie eine der erhabensten der Welt.
Seite
233
Die Gärten im Iran streben nach dem notwendigen Mass an
Schatten und nach Frieden.
Seite
237
Es ist die Reise, die sie träumen lässt. Die Reise, die
Überraschungen, die Widerwärtigkeit, die Mystik des Weges, die im
Herzen der Orientalen so lebendig ist und die uns so oft Nutzen
gebracht hat.
Seite
244
Dschinnen, die einen überfallen, wenn man abends einem
Wasserlauf folgt, ohne den Namen Allahs zu nennen.
Ich glaube
eher, dass es Landschaften gibt, die einem böse gesinnt sind und die
man unverzüglich verlassen muss, sonst stösst einem etwas
Unvorhersehbares zu. Es gibt nicht viele davon, aber es gibt sie. Für
jeden von uns existieren auf dieser Welt fünf oder sechs.
Seite
247
...das übliche Dreigestirn dieser Küstenschiffe der
Landstrasse.
Seite
255
Auch
die besten Landkarten des Iran sind ungenau.
Seite
256
Persepolis:
monumentaler Aufgang mit erhabenen Reliefs.
...das Unglück,
vernichtet zu sein, ehe man wirklich gelebt hat.
Seite
263
...wo mit jeder Etappe, die wir zurücklegen, das Leben
karger, die Lastwagen rarer, die Lebewesen seltener und die
Sonnenstrahlen heisser werden.
Seite
292
Quetta: ...Bahnhof, der einem Spielzeug aus der
Jahrhundertwende gleicht, ...
Seite
293
Beschreibung einer Autowerkstatt!
Seite
294
Es gab auch blaue Türen mit durchbrochenen Gitterwerk, hinter
denen junge, von schwarzen Strähnen umrahmte Gesichter auf Kunden
Warteten. Durch das Guckloch entspann sich eine diskrete Diskussion,
dann wurde dem Freier aufgetan.
))Heute noch in Marokko in Orten wie Azrou, Ait Löh, ...((
Seite
295
...begehrte mehr nach Musse als nach Lust. Alles, womit sie
sich befassen, sogar die Liebe gegen bar, ist von einer schlichten
Finesse geprägt.
Seite
309
Pornografie
ist eine Beschäftigung für die Alten.
Seite
319
Die kleinste Gefühlsbewegung, ein Lächeln gehen einem
geradewegs ins Herz... Auch das Fieber wiederholt sich immer wieder.
Alle vier, fünf Tage: Schwächegefühl und Schüttelfrost. Mir ist,
als wäre mein ganzer Körper mit nassem Laub und schmutzigem Wasser
bedeckt. Nichts Ernstes, aber es reicht aus, um mich abzulenken.
Seite
341
Die Malaria ist nicht gefährlicher als eine tüchtige Grippe,
jeder Arzt wird das bestätigen. Trotzdem zehrt sie von dem Bild, das
man sich von ihr gemacht hat. Der Mensch wird zittrig und schwach, er
möchte, dass ihm alles möglichst leicht gemacht wird. Nichts als
schlafen, das Bett ist gut – wenn nur die Fliegen nicht wären!
Seite
351
Der Reisende möge sich mit der gebührenden Bescheidenheit
präsentieren und ...
Seite
356
...Menschen, die das Lachen verlernt hatten und darum so
schutzlos schienen.
Seite
386
Jedem seine eigenen Scherben und Ruinen, aber es ist immer die
gleiche Katastrophe, wenn ein Stück Vergangenheit verlorengeht.
Seite
390
Wenn man sich den Vierzigern nähert, verliert in der Regel
das weltweite Herumstreunen seinen Glanz und seinen Zauber. Man muss
seine Ansprüche herunterschrauben. Man macht seine Weg, man schlägt
sich durch, man wird ein wenig härter. Die Jahre mehren sich. Der
Aufbruch vergisst sein Ziel, wird zur Flucht; das Abenteuer, seines
Sinnes entleert. Zieht sich ohne Schwung und nur noch mit ein paar
Tricks in die Länge. Reisen ist belehrend für die Jugend, aber
diese vergeht auch darüber. Man verbittert.
))Nicht
so ich. Ich fühle mich in meinem einfachen Nomadendasein vollkommen
wohl, die Seele durch viele Schwierigkeiten geläutert, das Gemüt
frisch und offen für Neues.((
Seite
401
...huckeligen Fiat Topolino, der alleine schon die Fahrt zum
Abenteuer machte.
Die "Erfahrung der Welt" ist eine Metapher für das, was eine Reise mit dem Menschen macht:
Sie verändert die Wahrnehmung, bricht Gewohnheiten auf und offenbart die Welt und das eigene Selbst in ihrer Komplexität und Schönheit, indem man sich auf das "Gebrauchen der Welt" einlässt, anstatt sie nur zu durchqueren.
