Outremer
Zurzeit beschäftige ich mich mit den Kreuzzügen und als Leitfaden dient mir das über 800 Seiten starke Buch "Die Kreuzzüge" von Thomas Asbridge, das 2010 im Klett-Cotta Verlag in Stuttgart erschienen ist. Das Buch hat mich die vergangenen 14 Jahre still begleitet und nun, da ich pensioniert bin, ist es mir endlich gelungen, mich dem Studium dieses seit Jahren interessanten Themas zu widmen. Über den Ersten Kreuzzug habe ich bereits eine Zusammenfassung geschrieben und vorgängig eine Einleitung verfasst. In diesem Artikel geht es mir unter dem Titel "Outremer" um das Zusammenleben der drei Religionen im Nahen Osten im 12. Jahrhundert.
Ausführlich wird diese Zeit im bereits erwähnten Buch von Asbridge ab Seite 193 beschrieben. Der Autor beginnt damit, dass zu den wertvollsten und schönsten Schätzen aus dieser Epoche ein kleines Gebetsbuch gehört. Der Psalter befindet sich 900 Jahre später in englischer Hand und kann in der British Library in London bestaunt werden.
Wie wir aus der Geschichte wissen, herrschten über das Heilige Land verschiedenste Könige und Reiche. Muslimische Sultane wechselten sich mit christlichen Lateinern ab. Davor waren die Byzantiner im Land, später die Römer und dann die Osmanen, bis diese schliesslich von den Briten abgelöst wurden. Seit 1948 gibt es den jüdischen Staat Israel. Ich selbst durfte Israel und die Stadt Jerusalem vor rund einem Jahrzehnt aus beruflichen Gründen besuchen. Abgesehen vom touristischen Aspekt, dem ich damals nachging, ist mir das Zusammenleben der unterschiedlichen Religionen in Erinnerung geblieben. Man betete, handelte und lebte nebeneinander. Extreme Christen und Muslime habe ich nicht gespürt; man erkennt sie auch nicht am Äusseren, wie man die extremen Juden gleich von weitem sieht. Auch das israelische Volk war sehr unterschiedlich und lebte in drei Sprachen, Hebräisch, Arabisch und Englisch, friedlich nebeneinander. Wer den Sabbat heiligte und in die Synagoge gehen wollte, konnte dies tun. Wer aber am Samstag lieber am Strand spazieren gehen, in einem der zahlreichen Restaurants essen und abends in einer Disco feiern wollte, konnte dies ebenfalls tun.
Ein Israel, das nur aus ab 1948 zugezogenen Menschen jüdischen Glaubens bestünde, wäre und wird auch heute nicht möglich sein. Auch dieser Staat ist auf Arbeitskräfte aus Drittstaaten und in diesem speziellen Fall auf einheimische, andersgläubige Arbeitskräfte angewiesen. Würden alle Muslime in ein muslimisches Land und alle Christen in ein christliches Land abwandern, würde der Staat Israel nicht lange überleben. Da sich die orthodoxen Juden zudem weigern, Militärdienst zu leisten, wäre der Absatzmarkt der Amerikaner und Europäer für Kriegsmaterial bald ausgetrocknet.
Und wie sah es im Jahr 1120 in den christlichen Reichen des Lateinischen Königreichs Jerusalem, der Grafschaft Tripolis und des Fürstentums Antiochia aus? Als die ersten Kreuzritter nach der Eroberung Antiochias dem Mittelmeer entlang nach Jerusalem zogen, lebten in dieser Region orthodoxe Christen, darunter Armenier, Griechen, Jakobiten, Nestorianer und Kopten, sowie Muslime und Juden. Mit der Gründung von Outremer konnte die einheimische Bevölkerung jedoch nicht einfach vertrieben werden. Bei der Eroberung Jerusalems wurden vor allem die Soldaten und Herrscher, die die Stadt zu verteidigen versuchten, abgemetzelt. Doch die Menschen in ihren Werkstätten, die Bauern und die Karawanführer waren für die Eroberer lebenswichtig. Erstens hatten die Eroberer keine Zeit, einen Nachschub einzurichten, und zweitens hatten sie nicht genug Menschen, um sich um das Handwerk, die Landwirtschaft und den Handel zu kümmern. Die neuen Befehlshaber herrschten als kleine, elitäre Minderheit über die ansässigen Untertanen. Die Lateiner blieben vor allem in den Städten und kümmerten sich um Sicherheit, Verwaltung und Kontrolle. Ausserhalb gab es Dörfer, die teilweise nur von Muslimen, anderen wiederum nur von Juden oder Christen bewohnt wurden. Von den Einwohnern wurden Abgaben und Steuern eingezogen, um den Regierungsapparat bezahlen zu können.
Interkulturellen Kontakt gab es sicherlich bei Mischehen. Eheliche Verbindungen zwischen Franken und Ostchristen waren üblich und dienten auch der Festigung politischer Bündnisse. Heiraten zwischen Lateinern und Muslimen waren hingegen sehr selten und nur zwischen einem christlichen Mann und einer arabischen Frau, die zum Christentum übergetreten war, möglich.
Mit
der Eroberung der heiligen Stätten in der Levante begannen die
ersten Pilgerreisen. Die Pilger wollten die Geburtsstätte ihres
Glaubens sehen und erleben. Nach ihrer Pilgerreise blieben viele im
Land, andere zogen weiter oder reisten in ihre Heimat zurück. Unter
ihnen waren auch arabische Reisende wie Usama Ibn Muniqidh, ein
Schriftsteller, Dichter, Politiker und Diplomat. Er stammte aus einer
Familie des unabhängigen Emirats Schaizar in Mittelsyrien. Seine
Erinnerungen geben einen guten Einblick in die Lebensumstände und
das Verhältnis der verschiedenen Religionen in der damaligen Zeit.
So konnte er ungehindert durch das christliche Gebiet reisen und fand
auf fränkischem Boden auch Moscheen, in denen er seine Gebete
verrichten konnte.
Ein
weiterer Reisender und Geograf aus dieser Zeit war Ibn Dschubair. Er
wurde in Valencia geboren und starb in Alexandria. In seinen
Berichten beschreibt er das Zusammenleben der Lateiner und der
Muslime. Er beschreibt die christlichen Kreuzfahrer als gerechte
Herrscher, die den muslimischen Bauern zwar Steuern auferlegen, ihnen
ansonsten aber ihre Freiheiten lassen.
Ein wichtiger Schnittpunkt zwischen den neuen Herrschern, den Einheimischen und den benachbarten muslimischen Staaten war der Handel. Die Franken brachten italienische Kaufleute aus Venedig, Pisa und Genua in ihre Häfen. Die arabischen Händler kamen von der arabischen Halbinsel und aus Persien und brachten Gewürze, wertvolle Stoffe, Zuckerrohr und Olivenöl mit. Der früher über Ägypten abgewickelte Handel fand neue Wege, und die christlichen Herrscher erschlossen sich so neue Einkommensquellen durch Zölle. Selbst in Kriegszeiten war der Handel zu wichtig, als dass er hätte unterbrochen werden können.
Wo sich unterschiedliche Kulturen treffen, sollte es eine weitere Form des Austauschs geben: den Austausch von Wissen und Kultur. In Outremer, vor allem in Antiochia, begrüsste die lateinische intellektuelle Elite den Austausch mit muslimischen, jüdischen und ostchristlichen Quellen. Hier gab es viele Jahre vor der Ankunft der Kreuzritter christliche Klöster und muslimische Schulen. Texte aus den Bereichen Theologie, Philosophie, Medizin und Naturwissenschaften wurden gelehrt und eifrig aus anderen Sprachen übersetzt. Bei neuen Bauten halfen Fachleute aller Kulturen mit. Lateinische Gelehrte übersetzten wichtige Texte ins Lateinische. So entstanden unter christlicher Leitung mit der Zeit auch hervorragende medizinische Zentren wie das dem Johannes dem Täufer geweihte Hospital in Jerusalem des Ritterordens der Johanniter.
Man bemühte sich um einen diplomatischen Dialog, handelte Verträge aus und nahm Handelsbeziehungen auf. Doch der Argwohn und der Hass gegenüber dem Anderen schienen unüberwindlich. Echtes Verständnis und dauerhafte Harmonie blieben aus, was nicht überraschte. In anderen Regionen wie der iberischen Halbinsel war es nicht anders. Zwistigkeiten gehörten zur Tagesordnung. Soziale und religiöse Intoleranz breiteten sich aus. Unterschwellige Konflikte waren nichts Besonderes. Eine Assimilation wurde nicht bewusst angestrebt.
