Schöne neue Welt
Alles begann mit dem Zukunftsroman des Russen Jewgeni Samjatin (1884-1937). Er war Techniker, Politiker und Schriftsteller. Sein Roman WIR entstand 1920 und zeichnet ein düsteres Bild der Zukunft. Mit seiner Erzählung kritisierte er die damalige postrevolutionäre Gesellschaft unter Stalin.
WIR
erschien zunächst im Ausland und gelangte über Umwege zurück in
die Sowjetunion. Der Roman löste in seiner Heimat eine Hetze gegen
ihn aus. Er konnte ins Exil nach Paris fliehen, wo er später starb.
Mit
seiner Erzählung beeinflusste Jewgenij Samjatin unter anderem Aldous
Huxley mit Schöne neue Welt und George Orwell mit seinem Roman 1984
aus dem Jahr 1948. Während Aldous Huxley den Kapitalismus und George
Orwell den Kommunismus entlarvte, beleuchtet Jewgenij Samjatin die
Mechanismen des Totalitarismus. In allen drei Dystopien ist die
Privatheit und Intimität der Elternschaft, der Geburt und jeder
persönlichen Bindung und Liebesbeziehung systematisch abgeschafft
worden, auch wenn Reste davon hinter der Grünen Mauer, in den
Reservaten für Eingeborene oder wie bei Orwell in wechselnden
Verstecken überlebt haben.
Auf
meiner letzten Reise über Rom, Nis und Belgrad nach Basel habe ich
nach vielen Jahren wieder einmal den Roman von Aldous Huxley gelesen.
Nach der Lektüre fiel es mir schwer, mich durch die Menschenmassen
zu bewegen, wie zum Beispiel in der Bahnhofshalle Basel SBB. Ich
schaute in die Gesichter der einzelnen Passanten und verglich
unwillkürlich ihre Gesten und ihre Gangart mit den anderen Menschen.
Dabei kamen mir die von Huxley beschriebenen Kasten in den Sinn und
ich ordnete die Menschen, die mir begegneten, von Alpha-Plus bis
Epsilon-Minus ein. Es war erschreckend zu sehen, wie sehr sich die
Menschen ähneln und wie einfach es ist, sie in Gruppen einzuteilen.
Für mich habe ich dann die Gruppen nach jemandem benannt, den ich
persönlich aus jeder Gruppe kannte. So entstand die Gruppe der
Renés, die Gruppe der Kewins und die Gruppe der Sonias. Die Namen
sind zufällig gewählt.
Da ich nur auf das Äussere achten konnte,
wusste ich nicht, in welche Intelligenzkaste ich diese kurze,
wahrscheinlich nur wenige Sekunden dauernde Bekanntschaft hätte
einordnen sollen. Doch nur mit dem Äusseren war eine Zuteilung
bereits möglich.
Der
Titel des englischen Originals bezieht sich auf Shakespeares Drama
The Tempest.
O Wunder! How many goodly creatures are there her. How
beauteous mankind is. O brave new world, that has such people in't.
Akt 5, Vers 181-183.
Der Roman wurde kurz nach seinem Erscheinen ins Deutsche übersetzt und erhielt den Titel Welt, wohin? Später wurde der Titel mehrfach geändert. Von Wackere Welt zu Neue Welt, Fortschritt wohin? bis hin zu Welt am laufenden Band. Erst 1950 wurden die Neuauflagen mit Schöne neue Welt betitelt. Das englische Adjektiv brave bedeutete zu Shakespeares Zeiten schön und nicht tapfer wie im heutigen modernen Englisch.
Eine der Hauptfiguren des Romans tritt erst im letzten Kapitel richtig in Erscheinung, als er mit dem Wilden aus dem Reservat über Gott, die alte Welt und die Welt nach Ford diskutiert. Mustafa Mannesmann ist Mitglied des Weltvorstands für Westeuropa und wird von seinen Untergebenen verehrt. Als junger Mann, erzählt er dem Wilden, sei er an echten Experimenten interessiert gewesen. Er las auch heute verbotene Literatur wie Shakespeare und die Bibel, die in seinem Büro versteckt unter Verschluss hält. Als Alpha-Plus ist er sich der negativen Seiten der modernen Welt bewusst, verhält sich aber systemkonform und will seine Führungsrolle nicht gefährden.
In
seinem philosophischen Gespräch äussert er gegenüber dem Wilden
dann auch Sätze wie:
Das
religiöse Gefühl hat uns für die Verluste entschädigt. Gott
offenbarte sich verschiedenen Menschen auf verschiedene Weise. Die
Menschen glaubten an Gott, weil sie dazu erzogen wurden. Gott änderte
sich nicht, aber die Menschen änderten sich.
