Sultanssüchtige
In der Ohrenzeuge beschreibt Elias Canetti fünfzig Charakter auf jeweils etwas mehr als einer Seite. Er gibt sich als Moralist, vermeidet es aber bewusst, moralisch zu argumentieren. Als hätte Canetti von Psychologie und Soziologie noch nie etwas gehört, beschreibt er so unterschiedliche Charaktere wie den Grössenforscher, den Leidensmesser oder den Tischtuchwickler. Mit einer knappen Sprache und manchmal surrealen Bildern werden die Charaktere beleuchtet und mit viel Humor bleiben diese Personen unvergesslich.
Der Ohrenzeuge ist eines jener Bücher, die mit anderen auf dem Nachttisch neben der Lampe oder im Wohnzimmer neben dem Lesesessel auf dem Beistelltisch liegen. Man nimmt es gerne zur Hand, um sich von einem anderen Buch abzulenken und sich an ein oder zwei Figuren zu erfreuen. Geblieben ist mir vor allem die Sultanssüchtige, welche auf eine spezielle Art und Weise den Grund des Zerfalls des Osmanischen Reiches sucht und begründet, denn die Sultanssüchtige leidet unter dem Verschwinden der Harems.
Denn da gab es noch Männer, die von Frauen etwas verstanden, die sich mit ewig derselben nicht zufrieden gaben. Diese Männer trauten sich noch etwas zu, sie hatten Feuer im Blut, sie sperrten sich nicht ab in ihren Berufen, sie waren nicht von ihrem Erwerbstrieb besessen. Man sehe sich doch die Herren von heute an, die müde und verdrossen von ihrem Geschäft in ihre Einehe nach Hause kehren. Es ist, als für die Männer von heute die Frauen gar nichts wären, Köchinnen oder Mütter. Jede Dienerin, jede Pflegerin könnte an ihre Stelle treten. Kein Wunder, dass Frauen denaturieren und gar nicht mehr wissen, wozu sie da sind. Manche entblöden sich nicht und gehen zur Arbeit wie ihre Männer. Sie wollen auch Geschäfte machen, gefühllos, wichtig und kalt werden. Abends kommen sie ebenso müde nach Hause. Sie sehen so aus wie ein Mann mit seiner Hose tragend, seine Sprache sprechend und geben sich damit zufrieden, dass sie sich gegen Männer draussen statt gegen Frauen zuhause zu behaupten haben.
Die Sultanssüchtige, die von Harems träumt, bedauert den zustand der Türkei, wo abgeschafft ist, was einmal die Grösse des Osmanischen Reiches war. Aus ist es mit den Eroberungen, aus mit der Grösse, die Türkei ein Land wie andere, moderner als früher, aber gleichzeitig ach so bescheiden! Solange sie Harems hatten, waren die Osmanen gross. Um sie auszufüllen mussten sie Kriege führen. Ihre Eroberungen galten alle der Lust auf neue Frauen. Wie soll man sie für diese herrliche Unersättlichkeit nicht lieben! Die Augen eines Mannes auf sich zu fühlen, auf den mehrere Hauptfrauen und unzählige Konkubinen warten! Zu wissen, dass er einen vergleicht, mit diesen anderen, vor ihm zu bestehen, ein Sieg! Wie sein Sieg auf dem Schlachtfeld!
Die Sultanssüchtige ekelt sich vor einer Welt, in der es nichts mehr wirklich weibliches zu tun gibt.