Taouent Nordafrika

28.07.2023

Auf der ganzen Welt gibt es Orte, die mit der Zeit vergessen gehen. Die Menschen der Gegenwart nehmen zwar die alten Steine wahr, interessieren sich aber wenig um deren Vergangenheit. Da braucht es jemanden, der sich hinkniet und sich fragt, was war hier? Wer lebte hier? Wer hat hier gehaust und gelebt? Wie kam es zum Untergang dieses damals sicher wichtigen Stützpunktes
Internet bietet dabei eine grosse Hilfe, aber der Suchende merkt bald, dass es mit vergangenen Grössen etwas schwierig wird, so im Falle der Ruinen der Lalla Ghazwana über dem Hafen der heutigen algerischen Stadt Ghazaouet.

Ghazaouet liegt an der Mittelmeerküste in der Nähe zur marokkanischen Grenze und ist vom spanischen Almeria über das Mittelmeer rund 200 Kilometer entfernt. Jeweils Dienstags verbindet eine spanische Fähre beide Städte miteinander und benötigt für die Überfahrt rund 8 Stunden. Wenn man mit der Fähre langsam in den Hafen gleitet überraschen die steilen Felsklippen links und rechts vom Hafenbecken. Bei der Einfahrt wartet ein natürliches Wahrzeichen, ein in zwei ungleiche Teile gespaltener Felsen auf die Schiffe. Schon früher zeigten diese Felsen, genannt die zwei Brüder, den Schiffsfahrern den richtigen Weg zum Hafen. Einmal im Hafenbecken muss die Fähre sich um die eigene Achse wenden, um am vorgesehenen Steg anzulegen. Von der Reling sehe ich einen mittleren Hafen mit zwei Frachtschiffen, die gelöscht werden. Viele Fischerboote in verschiedenen Grössen liegen im Hafenbecken. Bei ein paar wenigen herrscht noch emsiges Treiben nach dem nächtlichen Fischfang. Der Fischmarkt ist bereits geschlossen, für die Einwohner stehen ein paar Marktstände auf der breiten befahrbaren Aufschüttung, welche den Hafen vor dem Meer schützt. Hinter den Hafengebäuden liegt die Hauptstrasse, welche hoch in die Neustadt führt. In der Mitte ist ein freier Platz mit der christlichen Kirche, welche heute als Bibliothek Verwendung findet. Parallel zur Hafenstrasse führen zwei weitere Strassen von links nach rechts. Die mittlere mit Schatten spenden Bäumen bepflanzt, die hintere Häuserreihe grenzt an eine Felswand. Wo diese abflacht, führt die alte Hauptstrasse durch ein altes Stadttor nach Nedroma und weiter bis nach Tlemcen. Der Fluss Tleta schuf mit der Zeit ein breites Flussbett. Hier wurde in der französischen Kolonialzeit ein Bahnhof gebaut, der Güter vom Hafen ins Landesinnere führte und Erze, Wein und Getreide zum Hafen transportierte, welche ins Heimatland verschifft wurden. Heute führt der Fluss kein Wasser und wird als Müllhalde genutzt. So schmutzig wie das Flussbett ist auch die Stadt und deren Umgebung. Plastik fliegt und liegt überall herum. Der Sand von den Stränden liegt in der Luft und findet sich in allen Ritzen. Die Häuser aus dem 19. Jahrhundert sind teilweise verfallen, teilweise noch bewohnt. Sie scheinen alle ungepflegt und das letzte Mal einen Farbpinsel haben sie wohl vor Jahrzehnten gesehen. Die alten Cafés haben wohl in der Kolonialzeit bessere Zeiten erlebt. Die zahlreichen Geschäfte mit Kleidern, Lebensmitteln, Apotheken und Imbissbuden laden zu einem Spaziergang ein. Die Strassen münden in Richtung Neustadt auf einen Platz mit der alten Hauptmoschee und einem Strassencafé mit Terrasse, wo sich die männliche Jugend allabendlich trifft.
Eigentlich ein Ort, den man vielleicht für eine Stunde besucht und dann verlässt und erst wieder bei der Rückreise auf direkter Fahrt zum Hafen für die Ausreise streift. Doch irgendetwas, ein heimlicher Zauber, lässt mich länger in der Stadt weilen. Sicher sind es die netten und überaus freundlichen Einwohner, die Fischrestaurants mit täglich fangfrischem Fisch, die erwähnten Gebäude aus der Kolonialzeit, die nach Fotos schreien und hoch über der Stadt gelegen eine alte Festung, deren Überreste zerfallen und traurig auf die neu gebaute Einfallstrasse schauen und sicher von glorreicheren Zeiten träumen.

Die Osmanen nannten die Stadt Djemaa Ghazaoued, was so viel wie der Treffpunkt der Piraten bedeutet. Die Franzosen benannten Sie nach einem ihrer militärischen Führer, Nemours. Nach der Unabhängigkeit im Jahre 1962 wurde die Stadt zu Ghazaoued. Der türkische Piratenort befand sich aber nicht am Hafen in der Ebene, sondern oben auf dem Felsen östlich vom Hafen gelegen, wo heute eine militärische Einrichtung den Küstenabschnitt bewacht und das geschehen im Hafen überwacht. Hinter den vereinzelten Fischerhütten erstreckten sich Obst- und Gemüsegärten. Auf den Hügel Lalla Ghazwana führt eine steile, kurvenreiche Strasse. Bei einer Abzweigung stehe ich unter dem südlichen Wachturm, der am besten erhaltene Teil der damaligen Festung. Festung ist das falsche Wort, die damalige Stadt Taouent, welche zur zeit des Kalifats von Cordoba seinen Höhepunkt erreichte, war eine Stadt, welche die gesamte Ebene des rund 130 Meter über der heutigen Stadt liegenden Hochplateau einnahm. Der Turm, unter dem ich stand bildete dabei die südliche Grenze. Vom Turm Richtung Osten führte eine Mauer bis zu den Klippen, die in rund 80 Metern steil ins Mittelmeer abfallen. Richtung Westen sieht man noch deutlich die damalige Stützmauer, auf der wohl die eigentliche Schutzmauer mit Wachtürmen stand. Die Mauer führte bis nach Westen, wo heute die militärische Anlage steht und schützte somit die Stadt gegen Süden. Der gesamte nördliche Bereich war durch die steil abfallenden Klippen gegen ungebetene Gäste geschützt. Der Überlieferung zufolge gab es zwei Tore, die den Zugang zur Siedlung ermöglichten. Eines von ihnen befand sich westlich der Umfriedung neben dem Mausoleum von Sidi Moussa. Sidi Moussa war ein frommer Mann, der in der Nähe des Tores der Umfriedung lebte, wo er später auch begraben wurde. Das zweite Tor befand sich im Osten, in der Nähe zur Festung.
Die Siedlung nahm die gesamte Hochebene von rund sieben Hektar ein. Der Besucher kann noch heute vereinzelte Grundrisse der zahlreichen quadratischen Häuser zwischen den Gräsern und Gestrüppen finden. Hier standen auch Silos für das Getreide. Es finden sich viele Höhlen unterschiedlicher Grösse. Sicher waren einige von ihnen bewohnt, andere dienten als Unterstand für Tiere, die mit Blick aufs Meer sicher als Versteck und Stützpunkt zur Überwachung der Küste. Sehen und nicht gesehen werden. Die Siedlung hatte zwei Moscheen.
Die interessantesten Ruinen sind zweifellos die bis heute noch bestehenden Mauern und Türme der Burg, die ein Viereck von rund 3000 Quadratmeter bildete und an der strategischen Position östlich des Plateaus liegt. Der noch bestehende südliche Teil der Festung wird von drei Wachtürmen flankiert, welche an der Aussenseite der Ringmauer standen. Zwei davon sind Ecktürme. Die Türme stehen in gleichem Abstand von einander. Der östliche Eckturm ist breiter als die beiden andern. Seine Basis besteht aus zwei rechteckigen, voneinander getrennten Räumen, die von aussen nicht zugänglich sind. Darüber befanden sich zwei übereinander liegenden Kammern aus gemauertem Gewölbe.

Als die Franzosen in die Gegend kamen, wurden die Einwohner aus der Siedlung vertrieben und später die beiden Moscheen zerstört. Sie begannen mit dem Bau der militärischen Anlage, die bis heute etwas modernisiert besteht.
Östlich vom mittleren Turm befand sich eine der Zisternen. Sie wurde über einen Wasserkanal gefüllt. Diesen findet man, wenn man der Abzweigung unterhalb des südlichen Turm folgt und den Berg hochsteigt. Noch heute verraten die üppige Vegetation entlang des Kanals seine Existenz, welche weiter östlich abrupt endet. Hier sind wiederum viele Sträucher, umgeben von Pinien zu finden. Gab es hier wohl eine Quelle?

Nach den Arabern kamen die Spanier. Ob Sie sich in Taouent niedergelassen haben, ist unwahrscheinlich. In den geschichtlichen Unterlagen dieser Zeit wird von Oran und Honain gesprochen, die beide weiter östlich liegen. Somit war die Siedlung sehr wahrscheinlich bereits zu dieser Zeit ein Piratennest der Berber, welche vom durch die Natur geschützten Taouent die spanischen Flotten auf dem Weg nach Oran angriffen.
Die Siedlung ist heute vergessen, sogar bei den Einheimischen. Bei meinem Besuch war ich der einzige, der auf dem Plateau herumstreifte. Ein Militär kam mich besuchen, um zu erklären, dass ich keine Fotos von der militärischen Anlage machen dürfe, was mir schon vorher bewusst war und ich ihm gerne bestätigte.
Im Internet fand ich nicht viele Informationen, nicht einmal über die glorreiche Zeit der Kalifen aus Cordoba. Für die spanischen Geschichtsschreiber scheint das Mittelmeer die Grenze gewesen zu sein und die damalige Welt mit Al Mariyat Bayyana (heutiges Almeria) zu enden. Dabei war das Kalifat in der Blütezeit der Fatimiden auf afrikanischem Boden flächenmässig grösser als auf der Iberischen Halbinsel. Hier herrschten die Sultane der Touent und Ad Fraties. Die Handels- und Pilgerwege führten entlang der Küste von West nach Ost bis nach Mekka. Die Handelsroute mit dem schwarzen Kontinent führte über Tlemcen, rund 80 Kilometer von der Küste entfernt Richtung Sahara. Muslimische Dynastien entstanden im heutigen Mauretanien und Senegal und deren Eroberungszügen führte durch Nordafrika nach Europa. Die Ruinen von Taouent haben viel gesehen und viel erlebt. Heute kümmert sich keiner um sie und der südliche Wachturm träumt weiter vor sich hin.

Quellennachweis: https://www.pecheurs-de-nemours-ghazaouet.com