Terra Magna
Vor mir liegt ein Buch, das ich im Januar 2006 gelesen und als "sehr interessant!" bewertet habe. Diese kurze Bemerkung mag damals viel bedeutet haben, sagt aber knapp 20 Jahre später wenig aus. Damals lebte ich in Marokko und die Geburt meines Sohnes Elyas stand kurz bevor. Viele Stellen, halbe Seiten und ganze Kapitel habe ich damals mit Bleistift markiert. Ich bin gespannt, ob diese Stellen auch heute noch für mich interessant und wichtig sind. Die vergangenen 20 Jahre waren ereignisreich, und meine Träume von damals sind erloschen, haben sich in Luft aufgelöst.
Das 1948 veröffentlichte Buch "Terra Magna" des Schweizer Autors John Knittel spielt kurz vor und während des Zweiten Weltkrieges. Die Erzählung bringt uns zuerst nach Ägypten, ein Land, in dem ich persönlich noch nicht war, das mich aber aufgrund der verworrenen und verschwommenen Geschichte meines Grossvaters interessiert. Der zweite Teil spielt sich dann in Marokko in den einzigartigen Tälern des Atlasgebirges ab. Dabei werden Ortsnamen erwähnt, die es nicht gibt und nie gab, die mich aber an mir bekannte Orte erinnern. Damals, bevor ich das Buch zum ersten Mal las, war ich selbst in Marokko viel unterwegs. Die Beschreibung der Dörfer von Ain-Salam erinnert mich an den Besuch eines Tales mit seinen Dörfern, die bis heute in keiner Karte verzeichnet sind. Wir Besucher mussten dem Dorfältesten damals versprechen, unseren Besuch geheim zu halten, denn die Gemeinschaft wollte weiterhin als freie Berber leben und nichts von der Zivilisation und den Politikern in Rabat wissen. Irgendwie war es damals mein Traum, so zu sein wie der Patriarch der Geschichte, wohl wissend, dass dies nie eintreffen würde und ich nicht einmal bereit gewesen wäre, dieses Leben zu führen.
Hermann Manuel Knittel wurde 1891 in Indien als Sohn eines württembergischen Missionars, der im Dienste der Basler Mission stand, und dessen Frau, geborene Schulze aus Basel, geboren. Bereits 1895 kehrten die Knittels nach Europa zurück und erhielten 1907 die Schweizer Staatsbürgerschaft. 1910 übersiedelte er nach London und nannte sich fortan John. 1921 erschien sein erster Roman, im selben Jahr zog er mit seiner Familie nach Genf. In den folgenden Jahren unternahm er mit seiner Familie zahlreiche Reisen, die sie unter anderem nach Ägypten, Tunesien und Algerien führten.
Knittel schrieb seine Werke sämtlich in englischer Sprache. Sein Schweizer Verlag vermarktete ihn jedoch als deutschsprachigen Schweizer Schriftsteller, ohne die jeweiligen Übersetzer anzugeben.
Sein Leben und seine Ideen spiegeln sich in dem Roman Terra Magna wider. So ist eine der Hauptfiguren Schweizer, in Genf geboren, dessen leiblicher Vater Engländer ist und das ärmliche Leben der Fellachen im Niltal verbessern möchte. Die Mutter der Hauptfigur ist Deutsche, doch die Romanfigur lehnt sein Deutschsein ab. Dies könnte darauf hindeuten, dass der Verfasser während des Krieges als deutschfreundlich galt und dies in dem nach dem Krieg geschriebenen Buch widerlegen wollte. Die Geschichte ist manchmal spannend, dann wieder tragisch, wird aber auch romantisch bis hin zu kitschig. Damals wie heute habe ich die Seiten über die Täler des Atlas in Marokko mit Spannung gelesen, heute wohl auch mit einer Prise Nostalgie. Da ich mir bereits vor zwanzig Jahren die Mühe gemacht habe, gewisse Teile aus dem Buch abzuschreiben, möchte ich diese nun nachfolgend anhängen.
Das von mir gelesene Buch wurde als Lizenzausgabe mit Genehmigung von Frau Frances Knittel für mehrere Verlage in Deutschland freigegeben. Es ist bei mehreren Gebrauchtbuchhändlern für wenig Geld zu kaufen.
Man muss auf seine Gesundheit aufpassen, seelisch wie körperlich. Das Klima hier bringt uns nur allzu leicht in Versuchung, uns untätig treiben zu lassen, wenn wir handeln sollten. Trägheit, die sich so leicht einschleicht.
Ich hätte Theologe statt Freidenker werden sollen. Was hat die Bildung für einen Sinn, wenn sie nicht mit Leib und Seele von deinem Heimatboden und deinem Glauben trennt? Ich hätte abergläubisch und unwissend bleiben und mich doch dabei für einen superklugen Kerl halten sollen. Ich müsste den ganzen Koran vom Anfang bis zu Ende auswendig können und imstande sein, die Sprache unserer weisen Männer in salbungsvollem Trembolo herzusagen.
Eine natürliche Religiösität.
Sachen haben nur den Wert, den man ihnen selber verleiht. Was sind Besitztümer? Tote Belastung, Ketten, Sklaverei.
Geschehnisse sind nur das, was wir selbst aus ihnen machen.
Im Grunde besass er keine Heimat und würde niemals eine besitzen, denn seine Heimat lag jenseits aller noch so weiten Abgeschiedenheiten, unerreichbar selbst für Ochsenkarren und Kamele, dort wo weder Automobil noch Eisenbahn je hingelangen – sie lag in dem unergründlichen Teil seines Selbst, in jenem unsichtbaren Zentrum, das der Weltgeist in jeden Menschen legt, in dem ein Funke Gotte ist.
Bald werden wir die Stimme des Muezzin hören. Die guten Moslems werden sich zweifellos in ihren Betten umdrehen und weiterschlagen, mit Ausnahme der treuen Knechte des Propheten. "Warum glauben Sie nicht?" "Weil kein sich selbst achtender, wissenschaftlich geschulter Verstand diesen veralteten Unsinn hinnehmen kann. Das ist gegen jeden modernen Geist und färbt entstellend auf alle Dinge des Lebens ab. Es ist das grösste Hindernis für die menschliche Entwicklung. Ein Atavismus! Diese ewige Beschäftigung mit dem Jenseits wirft einen Schatten über das ganze Leben der heutigen Menschen."
"Wenn nun aber die Gebote des Korans befolgt würden und die Menschen ihrem Glauben gemäss lebten, würde das nicht eine bessere Welt herbeiführen?"
"Seit wir Moslems vom Okzident unterworfen wurden, hat sich die ursprüngliche Macht des Islam verflüchtigt. Früher war der Islam hauptsächlich eine kriegerische Macht."
"Die Geschichte des Islam ist genauso blutig und so romantisch wie die des Christentums. Man darf nicht vergessen, dass der Islam ursprünglich die Religion der Araber war. Er ist eine Religion, die dem Klima der Wüsten und Kamele angepasst ist. Ich sehe keine Möglichkeit Nomadentum zu einem Staatswesen zu gestalten. Ich bin überzeugt, dass in ihrem Volk ungeheure Möglichkeiten geistiger und künstlerischer Entwicklung schlummern. Es muss nur ein Anstoss gegeben werden, damit er erwacht, lebt und gedeiht. Das Volk Mohammeds braucht vor allem völlige Freiheit, um zu zeigen, was es vermag. "
"Unsere Religion übt heute nur die Funktion eines gehorsamen Werkzeuges aus, mittels dessen Millionen armseliger Menschen zwischen dem Senegal und dem Ganges beherrscht werden."
Zeit schien hier für niemanden eine Rolle zu spielen. Sie leben im Lande ihrer Väter, einem Vaterland von Menschen, sprechen eine Sprache und glauben an einen Gott.
Frauen sind Katzen. Wir sind nicht die gefühlsvollen Schönheiten, die Dichter aus uns machen. Wir können zeitweise höchst überraschend sein. Wir haben heisses afrikanisches Blut, das ziemlich viel Abkühlung braucht. Viele ruinieren ihre Männer aus blosser Sinnlichkeit, und was die Wollust betrifft, so findet man unseresgleichen nicht in der ganzen Welt. Unsere Männer, die Narren, sind stolz darauf. Ihre Lüsternheit findet in uns ihren Widerpart.
Bettler: seine Hand griff in die Tasche nach Münzen, aber sie hinderte ihn daran. "Sie unterstützen nur einen öffentlichen Übelstand. Überlassen Sie den Gläubigen das Spenden. Es ist ein Teil des Glaubens. Die brauchen die Unglücklichen, um ihre Frömmigkeit an ihnen zu bestätigen."
Das Geheimnis der meisten Europäer ist, dass sie vor allem Willensmenschen sind. Sie wollen ganz für sich selbst dieses oder jenes unternehmen und besitzen nicht genug von jener Gabe der Unterwerfung unter einen höheren Willen. Mit Willenskraft kämpfen sie gegen ihr Schicksal an. Araber und Neger, haben sich mit der Tatsache abgefunden, dass ein höherer Wille die Schicksale der Menschen und Völker regiert.
Marokko:
Du wirst
Berge sehen, deren eisgekrönte Häupter zu einem Himmel ragen, wie
du ihn noch nie gesehen hast. Du wirst durch tausend grüne Täler,
an sprudelnden B¨chen vorbeikommen. Du wirst den wilden endlosen
Horizont im Lande Taoulila, die Schafherden der Ait-Iknifene und
Ait-Harrani im Lande der Berber schauen; und die glitzernden kleinen
Städte in den grünen Ebenen von Azilalt werden dein herz mit neuem
Jubel erfüllen. Du wirst den wahren Araber und den wahren Berber
kennen lernen und auch den stinkenden Maurenmischling, der nur ein
Sammelsurium von dem ist, was zwischen den beiden Meeren durch die
Städte zieht
Ich kann mir nicht ein von Europa unabhängiges Afrika vorstellen. Diese beiden Kontinente gehören zueinander. Wenn sie nicht untergehen wollen, müssen sie ein gemeinsamer Kontinent werden.
