Vaters Buch

20.09.2025

Wer ein Buch schreibt, vielleicht ein Tagebuch oder noch besser eine Biografie, würde nach seinem Tod nicht in Vergessenheit geraten, sondern in der Erinnerung seiner Nachkommen, Freunde und Feinde weiterleben. Dies ist dem Schweizer Schriftsteller, Lektor und Übersetzer Urs Widmer gelungen. Er ist im April 2014 gestorben, doch sein literarisches Werk wird bis heute gekauft und gelesen.

Urs Widmers umfangreiches Werk umfasst Romane, Erzählungen und Essays. Er hat aber auch Theaterstücke und Hörspiele geschrieben. Er gilt als einer der vielseitigsten Schweizer Autoren seiner Zeit. Seine Stärke liegt in fantasievollen und ironischen Handlungen, die von klassischen Abenteuer- und Reisegeschichten bis hin zur Parodie und zum Surrealen reichen.
Ab der Jahrhundertwende nahmen seine Werke zunehmend autobiografische Züge an. Dazu zählen die Trilogie über seine Mutter sowie das 2004 erschienene Buch über seinen Vater. Über sich selbst schrieb er das Buch Leben als Zwerg.

In dem Buch seines Vaters beschreibt er dessen Leben in einem abgeschiedenen Weiler, fernab jeglicher Zivilisation. Als Zwölfjähriger wurde er in der Schwarzen Kapelle des Dorfes in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen und erhielt sein eigenes Lebensbuch. Ein Buch voller leerer Seiten. Seine Aufgabe war es, täglich bis zu seinem Tod die Gegebenheiten des Tages im Buch festzuhalten. Als er das Ereignis seines Festtages festhielt, meinte sein Onkel lakonisch, dass er die Schrift viel kleiner wählen müsse, da das Buch sonst bald voll sei und somit sein Leben geendet wäre. Also übte sich der Vater in Klein- und Sütterlinschrift, und Millimeter für Millimeter hielt er sein Leben fest. Vor seinem Tod durfte niemand das Buch lesen, und die erste Lektüre war dem ältesten Nachfolger bestimmt. Das Leben des Vaters war von Literatur geprägt. Als junger Mann zog er nach Paris und investierte sein gesamtes Geld in Bücher. Zurück in der Schweiz lebte er für und von seinen Büchern und Übersetzungen. Auch wenn er an der Schule Französisch unterrichtete. Sein monatliches Gehalt und mehr – seine Ehefrau war reich – gingen für den Erwerb von Büchern und Schallplatten drauf. Den Zweiten Weltkrieg erlebte er als Soldat. Er bewachte eine Eisenbahnbrücke und übersetzte dabei in Gedanken französische Texte ins Deutsche. Gegen Kriegsende trat er wieder zu Hause der Kommunistischen Partei der Arbeit bei und wurde fast in die Regierung gewählt. Seine Steuerschulden beglich er mit dem Erlös aus dem Verkauf seiner Schallplattensammlung. Er widmete sein Leben der Literatur und so starb er eines Morgens im Badezimmer nach der nächtlichen Arbeit.

Eine weitere Tradition des Dorfes war, dass jeder bereits zu Lebzeiten, teilweise sogar in der Jugend, einen Sarg erhielt, der bis zum Tod im Dorf aufbewahrt wurde. Die Särge stapelten sich vor dem einzigen Gasthaus des Dorfes. Die Besitzer der Särge lebten in den nahen Städten oder sogar in Amerika. Als der Sohn des Verstorbenen den Sarg seines Vaters für die bevorstehende Beerdigung aus dem Dorf holen wollte, fand er es völlig verändert vor. Die Schwarze Kapelle war weiss gestrichen, die Strasse führte nun bis in den Dorfkern und an der Gaststätte prangte die Werbung einer bekannten Biermarke. Vor dem Gasthof standen keine Särge mehr. Das Dorf hatte sich dem ausländischen Tourismus verschrieben – wer will in seinen Ferien schliesslich einen Haufen roher Särge vor seiner Unterkunft? So starb eine weitere Tradition, wie so viele in der Moderne, die von den heutigen Generationen nicht weiter gepflegt werden.

Als der Sohn ohne Sarg nach Hause kam, fuhr die Müllabfuhr mit den ersten Kisten voller Papiere davon. Die Mutter musste noch am Tag des Todes das Zimmer des Vaters räumen und entsorgte die Haufen von losen Blättern, Notizen, Zeitungen und Zeitschriften, die zum Leben des Vaters gehört hatten. Auch das weisse Buch des Vaters lag nicht mehr auf seinem Schreibtisch. Es war eines der ersten Stücke, die Mutter entsorgte. Mit dem Verlust des von Vater sorgfältig geschriebenen Lebensbuchs war nun nicht nur der Vater tot, sondern auch sein Leben.

Um den Vater zu retten, blieb dem Sohn nichts anderes übrig, als das Leben des Vaters im Buch erneut festzuhalten, damit es für uns, die wir das Buch des Vaters lesen dürfen, in Erinnerung bleibt.