Carreteras secundarias

22.07.2023

Mit dem Beginn, mich von meinen angehäuften persönlichen Sachen zu trennen, wanderten ein paar Kisten mit Büchern in spanischer Sprache zu meinen Kindern in Granada. Ich lebte viele Jahre in Südspanien und für mein neues Leben wollte ich mit dem Kapitel Spanien schliessen. Seit ein paar Jahren ist meine Kurzreise zu meinen Kindern immer die letzte Reise nach Andalusien. Aber wie ein spanisches Sprichwort richtig erklärt, sag nie das letzte Mal, es ist immer das vorletzte Mal.
Bei meinem letzten Besuch fand ich die Mehrzahl meiner Bücher im Schlafzimmer meines Sohnes vor und ich erlaubte mir, deren Titel und Autoren nochmals durchzugehen. Dabei stach mir ein Buch ins Auge, welches mir bereits im Jahre 1996 in der Buchhandlung aufgefallen ist.
Damals... Ich kenne das Jahr, da auf der ersten Seite das Datum 17.06.1996 mit meinem Kürzel steht, Datum, wo ich das Buch zu Ende gelesen habe. Erschienen ist es im Verlag Anagrama aus Barcelona im gleichen Jahr.
Damals ist mir das Buch aufgefallen wegen des Fotos auf dem Umschlag. Den Autor Ignacio Martinez de Pison kannte ich nicht, aber den Citroën DS, dahinter eine Ente, beide gehören zu meinen Lieblingsautos. Beide Autos stehen am Wasser, dahinter geankerte Boote und ein Segelboot, das in den Hafen läuft. Der Vater mit Baskenmütze öffnet den Wagen und ein kleiner Junge mit kurzen Hosen und langen Socken rennt um den Tiburón, wie er in Spanien liebevoll genannt wurde. Auf den ersten Blick könnte ich der Junge sein, das Foto erinnert mich an ein Bild von meinem ersten Schultag im Jahre 1968, da trug ich auch ein weisses Hemd mit kurzen Hosen, langen Strümpfen und Sandalen und frischt gekämmt.
So kaufte ich das Buch aufgrund des Titelbildes. Den Titel "Carreteras secundarias" hatte ich damals nicht grosse Bedeutung geschenkt, aber der Titel "Nebenstrassen" hat mich wohl ein halbes Leben lang begleitet und heute tragen meine Webseiten diesen Namen.

Wieso der Citroën DS, die Göttin, von den Spaniern als Hai, Tiburón, bezeichnet wird, entzieht sich meiner Kenntnis. Vielleicht mit offener Motorhaube gleicht er einem Hai mit offenem Mund. Der Citroën DS kann als das revolutionärste Auto aller Zeiten bezeichnet werden. Diese Göttin auf Rädern war und ist nicht nur eines der schönsten Autos, die je entworfen wurden, sie war auch ein Auto, das dem Markt zwanzig Jahre voraus war. Ein Auto mit radikalen Innovationen, die auch heute noch nicht in allen Autos Standard sind. Nach meiner Ente, der 2CV, kaufte ich mir einen DS aus zweiter Hand. Dunkelblau mit den neueren, sich der Kurve anpassenden Scheinwerfern. Ein herrliches Fahrzeug, welches viel Spass beim Fahren brachte und ich dann später gegen einen CX Break umgetauscht habe. Heute liegen die Preise für die Göttinen bei rund 20'000 Euros und mehr.

Der heranwachsende Felipe und sein Vater leben Hand in Hand und sind aufgrund der Tätigkeiten des Vaters gezwungen, die Städte und ihre Adressen häufig zu wechseln. Ihr einziger Besitz ist der Citroën Tiburón und ein tragbarer Fernseher, mit dem sie 1974, am Ende des Franco-Regimes durch Spanien reisen. Sie machen sich auf die Suche nach etwas, wissen aber selbst nicht, was sie genau zu finden hoffen.
Felipe lernte seine Mutter nie kennen, da sie ein paar Jahre nach seiner Geburt verstarb. Sein Vater hat oft neue Freundinnen, die für Felipe nicht zum Bild seiner Mutter passen. Sein Leben besteht aus einem ständigen Streifzug durch verlassen wirkende touristische Siedlungen in der Nebensaison. Bei jedem Aufenthalt bringt ein Ereignis immer Aspekte und Einstellungen im Leben von Felipes Vater ans Licht, die er noch nicht verstand oder nicht verstehen will. Durch Geld verdienen für das tägliche Leben mit eigentümlichen Methoden wird der Vater immer wieder in Situationen verwickelt, die sie zwingen, ihren Weg unfreiwillig fortzusetzen.
Als sie gezwungen sind, ihre Reiseroute zu ändern und die Küste zu verlassen, verändert sich ihr Leben radikal. Der Vater kommt ins Gefängnis und Felipe zu seinem Onkel und Grossmutter väterlicherseits. Nach der Entlassung finden sie Unterkunft bei einem guten Freund in Zaragoza und der baldige Tod der reichen Grossmutter wendet das Blatt der beiden in Reichtum und Ansehen. Das Buch endet in einem der Küstenorte im Sommer. Felipe langweilte sich wie noch nie am Meer, aber wenigstens war sein Vater glücklich. Bastante feliz.

Der Roman wurde nicht ins Deutsche übersetzt, dafür zweimal verfilmt.