Hermann Hesse Steppenwolf

03.03.2023

Alle zitierten Textpassagen sind entnommen aus: suhrkamp taschenbuch 175, erste Auflage


Vor über hundert Jahren schrieb der Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse die Geschichte des Harry Haller. In einer Zeit, wo viele Autoren sich mit der Psychoanalyse von Sigmund Freud und der analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung beschäftigten, Nietzsche ihr grosses Vorbild war, der Erste Weltkrieg überstanden, aber das Wissen um einen neuen Krieg allgegenwärtig, man wusste nur nicht, wann. Es knisterte in der Luft, das Moderne hielt Einzug in das tägliche Leben, Menschen wie Hesse fragten, hinterfragten sich selber und die Welt. Was ist mit mir, was ist mit uns?

Viele Abhandlungen und Traktate wurden über das wohl bekannteste Werk des deutsch - schweizer Schriftstellers und Denkers geschrieben. Der epische Text wurde auseinandergenommen, wird noch heute an den Schulen analysiert und interpretiert. Die einzelnen Figuren werden kritisch gegeneinander und miteinander verwoben und deren Charakteren seziert. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Die Analytiker nehmen Hermann Hesse auseinander, bevor sie noch den Autor und seine Zeit hinterfragt und sich über seine Zeit informiert haben. Alle diese studierten Menschen haben auf ihre Art recht und glauben Hesse zu verstehen. Die Frage ist nur, muss der Roman, der die internationale Renaissance Hesses ausgelöst hat, in seine Einzelteile zerlegt werden? Muss jede Aussage, ja jedes Wort auf die Waagschale des Seins gelegt werden?

Ist es nicht einfach so, dass Hesse uns normal sterblichen Lesern seiner Bücher etwas ganz Einfaches mitteilen will. So einfach wie das Leben lebenswert zu machen? Dass jedes Ding an seinem Ort und zu seiner Zeit seinen Platz findet?
Wir leben doch alle in einer anderen, in unserer Welt. Wer ist schon imstande, in einer Wohnung mit einer bis ins kleinste Blatt geputzten Araukarie zu leben. Wer kann im kalten Europa schon mit einem sehr exotisch anmutenden Nadelbaum stammend aus Südamerika leben. Alte und ruppige Steppenwölfe sind auch Söhne und Töchter einer Mutter, die nicht nur über ihre Kinder, sondern auch über Stube und Treppen, Möbel und Gardinen sich bemühte, ihrer Wohnung und dem Leben ihrer Kinder so viel Sauberkeit, Reinheit und Ordentlichkeit zu geben, als nur immer gehen wollte. Um das eine Leben leben zu dürfen, benötigen wir das Gegenteil, um festzustellen, was wir haben und was wir wollen. Die Bürger der Stadt benötigen ein zu ihnen in die Städte und ins Herdenleben verirrter Steppenwolf und Pflanzen aus den Anden. Die Vereinsamung, die Wildheit, die Unruhe, Heimweh und Heimatlosigkeit zeigen erst, was Leben zwischen Hauch von Terpentin bedeutet. Dem Bewohner der bürgerlichen Wohnung tut der Fremde leid. Was war das für ein trostloses, verlorenes und wehrloses Leben mit italienischen Weinflaschen, Tabakdunst und Bücher, die auf dem Boden, auf dem Bett, dem Sofa und überall lagen. Da sitzt doch Harry Haller tagelang in Bibliotheken und die Nächte in billigen Wirtshäusern bei dreiviertel Elsässer-Wein oder er liegt mit aufgeschlagenen Büchern auf einem gemieteten Kanapee. Er hört hinter den Fenstern die Welt und Menschen leben, so wie diese Menschheit leben will, in einem kleinen und bürgerlichen, aber gesicherten und von Pflichten erfülltem Leben. Die Menschen leben in ihrer jeweiligen Zeit, mit der Krankheit ihrer Zeit, der Neurose jener Generation, welcher wir jeweils angehören und von welcher keineswegs nur die schwachen und minderwertigen Individuen befallen scheinen, sondern gerade die starken, geistigsten und begabtesten.

Der Mensch muss zu Kompromissen bereit sein, ohne zu resignieren. Das Bürgertum verachten und ihm dennoch angehören. Es bejahen, um zu überleben. Harry Haller besteht nicht aus zwei Wesen, Körper und Seele, sondern wie wir alle aus hundert, aus tausenden. Jedes Menschen Leben schwingt nicht nur zwischen zwei Polen, dem Trieb und dem Geist oder dem Heiligen und dem Wüstling, sondern es schwingt zwischen unzählbaren Polpaaren. Jedes Ich ist nicht eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein Sternenhimmel, ein Chaos von Formen, Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten. Jeder ist bestrebt sein Ich als eine Einheit anzusehen. Ich bin eine fest geformte, klar umrissene Erscheinung. Eine Täuschung der Notwendigkeit, eine Forderung des Lebens wie Atemholen, Essen und Trinken. Als Körper ist jeder Mensch eins, aber als Seele nie! Der Mensch ist eine aus hundert Schalen bestehende Zwiebel, ein aus vielen Fäden bestehendes Gewebe. Jeder Mensch ist wie ein Garten mit hunderterlei Bäumen, tausend verschiedener Blumen und Pflanzen, Obststräuchern und Kräutern. Kennt der Mensch aber lediglich den Unterschied zwischen essbar und ungeniessbar, dann wird er mit Neunzehntel seines Gartens nichts anzufangen wissen. Er wird die zauberhaftesten Blumen ausreissen, die edelsten Bäume holzen und die feinsten Kräuter als Unkraut vernichten.

Harry Haller lebte mit seinen Büchern und ertränkte seine Zweifel an der Welt im Wein. Mit fünfzig entdeckte er ein neues, ein weiteres Leben, was er zuvor verachtete. Seine Literatur wechselte er nicht, doch fand er Gefallen am Jazz, am Foxtrott und stellte Mozart hinten an. Er lernte tanzen und lieben, lernte das Leben auf eine für ihn neue Art und Weise zu geniessen, welche aber auch nicht bürgerlich zu erkennen ist. Harry Haller durfte in seiner Jugend und als Kind das bürgerliche, saubere, reinliche Leben kennen. Durch Bildung und Neugier gewandelt zu Interessen, welche der Mehrheit der Menschheit fremd sind und fremd bleiben werden. Das sich Hinterfragen, das Denken und überlegen machen einsam, machen wunderlich. Nicht aber für den Denker, sondern für seine Umwelt. Immer wieder wird die Zeit kommen, sich neuen Feldern zu öffnen, neues für sich zu entdecken. Bleiben wir unserem Ich treu und vergessen dabei nicht, was es Schönes und Interessantes ausserhalb dieses Ich's noch gibt. Das Leben ist einmalig, die Möglichkeiten vielseitig. Jeder schöpft aus dem Lebensbrunnen so viel Wasser, wie er benötigt. Mozart wartet auf Harry, Pablo der Saxofonist ebenso.