Radetzkymarsch
Mein Vater liebte Marschmusik. Am Sonntag wurde das Radio lauter gestellt. Während er in der Tageszeitung las, wippte er mit den Füssen im Takt. Wir Kinder liebten seine Musik genauso innig wie er unsere englischen Pop- und Rockgruppen. Eine musikalische Hassliebe zwischen den Generationen. Doch einige der Märsche sind in meinem Bewusstsein geblieben und haben im musikalischen Teil meines Gehirns neben den Beatles, Bryan Ferry und so manchen anderen einen Platz eingenommen. Beim blossen Namen des weltberühmten Marsches von Johann Strauss summe ich die ersten Takte. Feldmarschall Josef Wenzel Graf Radetzky von Radetz würde sich sicher noch heute in seinem Grab freuen, wenn der ihm gewidmete Marsch als Zugabe beim Neujahrskonzert in Wien gespielt wird.
Wenn man den Marsch googelt, erscheinen Seiten mit der Geschichte dieses Marsches und der Diskussion, ob es sich um einen Walzer handelt oder nicht. Google weist auf kein gleichnamiges Buch hin. Erst wenn der Name des Schriftstellers Joseph Roth als Suchbegriff hinzugefügt wird, erinnert sich die KI an diesen Klassiker.
Der Roman erzählt vom Aufstieg und Untergang der Familie Trotta, deren Schicksal untrennbar mit dem Niedergang der österreichischen Monarchie verbunden ist. Die Geschichte beginnt damit, dass der Offizier Joseph Trotta Kaiser Franz Joseph in der Schlacht bei Solferino rettet und daraufhin geadelt wird. Sein einziger Sohn wird Beamter, während der einzige Enkel, Carl Joseph, den Niedergang der Monarchie und seiner Familie am eigenen Leib erfährt. Er scheitert im Dienst, verfällt den Sitten des Offizierkorps und fällt im Ersten Weltkrieg für den Kaiser.
dtv 12477, Joseph Roth, Radetzkymarsch, Seite 136
Damals, vor dem grossen Kriege, war es noch nicht gleichgültig, ob ein Mensch lebte oder starb. Wenn einer aus der Schar der Irdischen ausgelöscht wurde, trat nicht sofort ein anderer an seine Stelle, um den Toten vergessen zu machen, sondern eine Lücke blieb, wo er fehlte, und die nahmen wie die fernen Zeugen des Untergangs verstummten, sooft sie diese Lücke sahen. Wenn das Feuer ein Haus aus der Häuserzeile der Strasse hinweggerafft hatte, blieb die Brandstätte noch lange leer. Denn die Maurer arbeiteten langsam und bedächtig, und die nächsten Nachbarn wie die zufällig Vorbeikommenden erinnerten sich, wenn sie den leeren Platz erblickten, an die Gestalt und an die Mauern des verschwundenen Hauses. So war es damals! Alles, was wuchs, brauchte viel Zeit zum wachsen; und alles, was unterging, brauchte lange Zeit, um vergessen zu werden. Alles aber, was einmal vorhanden gewesen war, hatte seine Spuren hinterlassen, und man lebte dazumal von den Erinnerungen, wie man heutzutage lebt von der Fähigkeit, schnell und nachdrücklich zu vergessen.
dtv 12477, Joseph Roth, Radetzkymarsch, Seite 298
Er schlief ruhig ein, er glaubte, das Schwerste hätte er überstanden. Er wusste nicht, der alte Herr von Trotta, dass ihm das Schicksal bitteren Kummer spann, dieweil er schlief. Alt war er und müde, und der Tod wartete schon auf ihn, aber das Leben liess ihn noch nicht frei. Wie ein grausamer Gastgeber hielt es ihn am Tische fest, weil er noch nicht alles Bittere gekostet hatte, das für ihn bereitet war.
Moses Joseph Roth war ein österreichischer Schriftsteller und Journalist. Er stammte aus einem bürgerlichen Elternhaus galizischer Juden. Während seines Germanistikstudiums an den Universitäten Lemberg und Wien verfasste er seine ersten literarischen Arbeiten. Er wurde am 2. September 1894 in Brody (Ukraine) geboren und starb am 28. Mai 1939 in einem Armenspital in Paris.

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