Uns nährt die Erde
André Gide ist einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Ich habe auf diesen Seiten bereits über sein Buch Der Immoralist geschrieben. Er stammte aus einer protestantischen Familie und genoss eine strenge Erziehung, die sich in seinem umfangreichen literarischen Werk widerspiegelt, in dem sich die Angst vor dem Sündenfall und die Suche nach dem Glück ständig gegenüberstehen.
1897
veröffentlichte André Gide mit Les nourritures terrestres, Die Erde
nährt uns, eines seiner berühmtesten Werke, in dem er jegliche
Unterwerfung unter gesellschaftliche Normen ablehnt und das Streben
nach Sinnenlust, Genuss und Lebensglück verherrlicht. Es ist eine
Art hedonistische Programmschrift, die unmittelbar nach ihrem
Erscheinen grossen Einfluss auf die Jugend ausübte. Zusammengefasst
ist das Buch die Summe seiner sinnlichen Erfahrungen, sein Album der
irdischen Güter, eine direkte Aufforderung, eine mögliche Anleitung
zum Glücklichsein, die sich nicht nur an seinen fiktiven jungen
Freund Nathanael richtet, sondern an alle Menschen von damals bis
heute.
1935
erschien Nouvelle Nourritures, Uns nährt die Hoffnung, das schon im
Titel an das knapp 40 Jahre zuvor erschienene Werk anknüpft. Es ist
ein Aufruf zur Lebensfreude.
Im
Vorwort zur Ausgabe von 1927 schreibt Gide unter anderem:
Unendlich
selten scheint mir diese Treue des Herzens und des Denkens. Wo sind
die, welche am Ende ihres Lebens sagen dürfen, wir haben erfüllt,
was zu erfüllen wir uns vorgesetzt hatten? Zu ihnen rechne ich
mich.
Mein Buch lehre Dich: mehr mit Dir selbst als mit ihm Dich
zu beschäftigen – und mit allem anderen mehr als mit Dir.
Und schon auf der ersten Seite, noch bevor das erste Buch beginnt, rät er seinem Freund Nathanael, wenn er das Buch gelesen habe, solle er es wegwerfen und zerbrechen. Er soll etwas zurücklassen. Seine Heimatstadt, seine Familie, sein Zimmer, seine Gedanken. Das Buch jedenfalls soll er nicht mitnehmen.
Und
das Buch selbst beginnt mit einem weiteren Rat an seinen Freund:
Begehre
nicht, Nathanael, Gott irgendwo anders zu finden. Jedes Geschöpf
weist auf Gott hin, nicht eines offenbart ihn. Sobald unser Blick auf
einem Geschöpf verweilt, zieht es uns von Gott weg. Nicht in dem,
was wir anschauen, sondern in dem, was wir anschauen, liegt der Wert.
Lernen wir mit diesem Buch inbrünstig zu leben.
Als
28-jähriger gibt uns André Gide auf den Weg sich selbst zu
verzehren, nicht zu ruhen.
Kein
Ruhen wünsche ich mir, es sei denn im Tod. Ich habe Angst, alles
Verlangen und alle macht, die sich im Leben nicht erschöpft haben,
würden weiterleben und mich quälen. Und wenn ich einmal allem
Ausdruck gegeben habe, was auf dieser Erde in mir bereit lag, so
hoffe ich – genug getan zu haben und vollkommen hoffnungslos zu
sterben.
Und so gehen seine Ratschläge weiter. Er erzählt von seinem Lebensgefühl, von seiner Sehnsucht, in neuen Wassern zu baden, von seiner Wiedergeburt als neues Wesen unter einem neuen Himmel und in einer Welt von Dingen, die sich völlig erneuert haben. Dann regnete es. Dann regnete es. Dann kam der Tag. Auch die Morgenröte hat Gide erlebt und das Warten auf die Nacht...
Nathanael,
nicht einmal Wunsch soll Dir alle Erwartungen bedeuten, sondern
einfach: Bereitsein zu empfangen. Erwarte alles, was zu Dir kommt –
aber wünsche Dir nichts anderes, als was zu Dir kommt. Wünsche Dir
nur, was Du hast...
Begreife, dass Du jeden Augenblick des Tages
in seiner Ganzheit zu eigen haben kannst. Dein Wunsch sei Liebe, und
auch Dein Besitz – denn was gilt ein Wunsch, der nicht seine
Erfüllung findet?
Nathanaël, il n'y a que Dieu que l'on ne puisse pas attendre. Attendre Dieu, Nathanaël, c'est ne comprendre pas que tu le possèdes déjà. Ne distingue pas Dieu du bonheur et place tout ton bonheur dans l'instant.
Regarde le soir comme si le jour y devait mourir ; et le matin comme si toute chose y naissait. Que ta vision soit à chaque instant nouvelle. Le sage est celui qui s'étonne de tout.
Schon
im zweiten Buch spricht Gide von seinem Hunger, nicht nur nach
Nahrung, sondern auch nach Wissen. Das Schönste, was ich auf Erden
habe, ist mein Hunger. Er war mir immer treu. Alles, was immer auf
ihn wartete.
Wenn
er auch in der Erzählung in die Vergangenheit blickt, so rät er
doch, niemals die Wasser der Vergangenheit zu begehren, sie noch
einmal kosten zu wollen. Suche niemals die Vergangenheit in der
Zukunft. Erfasse in jedem Augenblick das unvergleichlich Neue. Was
nicht bejaht werden kann, lass los. Grosses Glück verspreche ich
Dir. Unterscheide nicht Gott von deinem Glück und sprich von Gott
nur natürlich. Denn es gilt der Beweis mit zwei mal zwei gleich vier
- Aber, nicht jeder kann gut rechnen! Auch wenn Alkides sich eine
Welt vorstellen konnte, in der zwei mal zwei nicht gleich vier ist.
Und
bei André Gide gab es Tage, an denen es ihm genügte, zu
wiederholen, dass zwei mal zwei immer vier ist. Das erfüllte ihn mit
einem gewissen Glück. An anderen Tagen war es ihm völlig
gleichgültig.
Ein Buch voller Gedanken, die zum Denken anregen, und Weisheiten, die überdacht werden wollen, folgt seinem Rat: Ich will dich keine andere Weisheit lehren als die, zu leben. Denken ist eine schwere Last. Daraus folgert er: Ich glaube nicht mehr an die Sünde! Das klingt einfach, vielleicht zu einfach.
Nathanaël, voici toute la chaleur de mon âme – emporte-la. Nathanaël, je veux t'apprendre la ferveur. Nathanaël, car ne demeure pas auprès de ce qui te ressemble ; ne demeure jamais, Nathanaël. Dès qu'un environ a pris ta ressemblance, ou que toi tu t'es fait semblable à l'environ, il n'est plus pour toi profitable. Il te faut le quitter. Rien n'est plus dangereux pour toi que ta famille, que ta chambre, que ton passé. Ne prends de chaque chose que l'éducation qu'elle t'apporte ; et que la volupté qui en ruisselle la tarisse.
In
diesem Artikel habe ich nur aus den ersten beiden Büchern zitiert
und meine Gedanken dazu notiert.
Ich überlasse es dem Leser, sich in
ruhigen Stunden mit Notizblock und Bleistift bewaffnet, den Rest des
Buches zu Gemüte zu führen. Ich bin sicher, dass es auch für meine
Leser genügend Anlässe geben wird, sich Notizen zu machen und
eigene Gedanken zu fassen.
Der
Mensch hat nur einen Frühling!