Uns nährt die Erde

03.11.2024

André Gide ist einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Ich habe auf diesen Seiten bereits über sein Buch Der Immoralist geschrieben. Er stammte aus einer protestantischen Familie und genoss eine strenge Erziehung, die sich in seinem umfangreichen literarischen Werk widerspiegelt, in dem sich die Angst vor dem Sündenfall und die Suche nach dem Glück ständig gegenüberstehen.

1897 veröffentlichte André Gide mit Les nourritures terrestres, Die Erde nährt uns, eines seiner berühmtesten Werke, in dem er jegliche Unterwerfung unter gesellschaftliche Normen ablehnt und das Streben nach Sinnenlust, Genuss und Lebensglück verherrlicht. Es ist eine Art hedonistische Programmschrift, die unmittelbar nach ihrem Erscheinen grossen Einfluss auf die Jugend ausübte. Zusammengefasst ist das Buch die Summe seiner sinnlichen Erfahrungen, sein Album der irdischen Güter, eine direkte Aufforderung, eine mögliche Anleitung zum Glücklichsein, die sich nicht nur an seinen fiktiven jungen Freund Nathanael richtet, sondern an alle Menschen von damals bis heute.
1935 erschien Nouvelle Nourritures, Uns nährt die Hoffnung, das schon im Titel an das knapp 40 Jahre zuvor erschienene Werk anknüpft. Es ist ein Aufruf zur Lebensfreude.


Im Vorwort zur Ausgabe von 1927 schreibt Gide unter anderem:
Unendlich selten scheint mir diese Treue des Herzens und des Denkens. Wo sind die, welche am Ende ihres Lebens sagen dürfen, wir haben erfüllt, was zu erfüllen wir uns vorgesetzt hatten? Zu ihnen rechne ich mich.
Mein Buch lehre Dich: mehr mit Dir selbst als mit ihm Dich zu beschäftigen – und mit allem anderen mehr als mit Dir.

Und schon auf der ersten Seite, noch bevor das erste Buch beginnt, rät er seinem Freund Nathanael, wenn er das Buch gelesen habe, solle er es wegwerfen und zerbrechen. Er soll etwas zurücklassen. Seine Heimatstadt, seine Familie, sein Zimmer, seine Gedanken. Das Buch jedenfalls soll er nicht mitnehmen.

Und das Buch selbst beginnt mit einem weiteren Rat an seinen Freund:
Begehre nicht, Nathanael, Gott irgendwo anders zu finden. Jedes Geschöpf weist auf Gott hin, nicht eines offenbart ihn. Sobald unser Blick auf einem Geschöpf verweilt, zieht es uns von Gott weg. Nicht in dem, was wir anschauen, sondern in dem, was wir anschauen, liegt der Wert. Lernen wir mit diesem Buch inbrünstig zu leben.

Als 28-jähriger gibt uns André Gide auf den Weg sich selbst zu verzehren, nicht zu ruhen.
Kein Ruhen wünsche ich mir, es sei denn im Tod. Ich habe Angst, alles Verlangen und alle macht, die sich im Leben nicht erschöpft haben, würden weiterleben und mich quälen. Und wenn ich einmal allem Ausdruck gegeben habe, was auf dieser Erde in mir bereit lag, so hoffe ich – genug getan zu haben und vollkommen hoffnungslos zu sterben.

Und so gehen seine Ratschläge weiter. Er erzählt von seinem Lebensgefühl, von seiner Sehnsucht, in neuen Wassern zu baden, von seiner Wiedergeburt als neues Wesen unter einem neuen Himmel und in einer Welt von Dingen, die sich völlig erneuert haben. Dann regnete es. Dann regnete es. Dann kam der Tag. Auch die Morgenröte hat Gide erlebt und das Warten auf die Nacht...

Nathanael, nicht einmal Wunsch soll Dir alle Erwartungen bedeuten, sondern einfach: Bereitsein zu empfangen. Erwarte alles, was zu Dir kommt – aber wünsche Dir nichts anderes, als was zu Dir kommt. Wünsche Dir nur, was Du hast...
Begreife, dass Du jeden Augenblick des Tages in seiner Ganzheit zu eigen haben kannst. Dein Wunsch sei Liebe, und auch Dein Besitz – denn was gilt ein Wunsch, der nicht seine Erfüllung findet?

Nathanaël, il n'y a que Dieu que l'on ne puisse pas attendre. Attendre Dieu, Nathanaël, c'est ne comprendre pas que tu le possèdes déjà. Ne distingue pas Dieu du bonheur et place tout ton bonheur dans l'instant.

Regarde le soir comme si le jour y devait mourir ; et le matin comme si toute chose y naissait. Que ta vision soit à chaque instant nouvelle. Le sage est celui qui s'étonne de tout. 

Schon im zweiten Buch spricht Gide von seinem Hunger, nicht nur nach Nahrung, sondern auch nach Wissen. Das Schönste, was ich auf Erden habe, ist mein Hunger. Er war mir immer treu. Alles, was immer auf ihn wartete.
Wenn er auch in der Erzählung in die Vergangenheit blickt, so rät er doch, niemals die Wasser der Vergangenheit zu begehren, sie noch einmal kosten zu wollen. Suche niemals die Vergangenheit in der Zukunft. Erfasse in jedem Augenblick das unvergleichlich Neue. Was nicht bejaht werden kann, lass los. Grosses Glück verspreche ich Dir. Unterscheide nicht Gott von deinem Glück und sprich von Gott nur natürlich. Denn es gilt der Beweis mit zwei mal zwei gleich vier - Aber, nicht jeder kann gut rechnen! Auch wenn Alkides sich eine Welt vorstellen konnte, in der zwei mal zwei nicht gleich vier ist.
Und bei André Gide gab es Tage, an denen es ihm genügte, zu wiederholen, dass zwei mal zwei immer vier ist. Das erfüllte ihn mit einem gewissen Glück. An anderen Tagen war es ihm völlig gleichgültig.

Ein Buch voller Gedanken, die zum Denken anregen, und Weisheiten, die überdacht werden wollen, folgt seinem Rat: Ich will dich keine andere Weisheit lehren als die, zu leben. Denken ist eine schwere Last. Daraus folgert er: Ich glaube nicht mehr an die Sünde! Das klingt einfach, vielleicht zu einfach.

Nathanaël, voici toute la chaleur de mon âme – emporte-la. Nathanaël, je veux t'apprendre la ferveur. Nathanaël, car ne demeure pas auprès de ce qui te ressemble ; ne demeure jamais, Nathanaël. Dès qu'un environ a pris ta ressemblance, ou que toi tu t'es fait semblable à l'environ, il n'est plus pour toi profitable. Il te faut le quitter. Rien n'est plus dangereux pour toi que ta famille, que ta chambre, que ton passé. Ne prends de chaque chose que l'éducation qu'elle t'apporte ; et que la volupté qui en ruisselle la tarisse.

In diesem Artikel habe ich nur aus den ersten beiden Büchern zitiert und meine Gedanken dazu notiert.
Ich überlasse es dem Leser, sich in ruhigen Stunden mit Notizblock und Bleistift bewaffnet, den Rest des Buches zu Gemüte zu führen. Ich bin sicher, dass es auch für meine Leser genügend Anlässe geben wird, sich Notizen zu machen und eigene Gedanken zu fassen. 
Der Mensch hat nur einen Frühling!