Tanger

30.06.2025

Es ist Sommer und die Temperaturen sind vielleicht etwas höher als normal. Ich bleibe bei der grössn Hitze zu Hause in der kühlen Wohnung und nutze die Zeit zum Lesen. Ich sortiere meine Bibliothek aus. Das habe ich vor ein paar Jahren schon einmal getan, doch es kommen immer wieder neue Bücher dazu und die alten, die ich eigentlich noch lesen möchte, verstauben erneut. Zurzeit lese ich eine Zusammenfassung verschiedener Zeitungsartikel aus dem Schaffen des spanischen Journalisten und Autors Javier Reverte auf Spanisch mit dem Titel "Billete de Ida". Javier Reverte schrieb vor allem Reiseberichte, und seine Art, die Welt und ihre Menschen zu beschreiben, gefällt mir. Ich habe ihn schon einmal während einer meiner vergangenen Reisen nach Oran in Algerien zitiert.

Auch Reverte liebt es, mit alten Reisebüchern neue Gegenden zu entdecken. So führt ihn Ali Bey, eigentlich Domingo Badia Leblich aus Barcelona, mit seiner Publikation aus dem Jahr 1814 nach Marokko. Das Eingangstor für Seereisende war und ist Tanger. Die Stadt der Träume von Paul Bowles oder, wie Henry de Montherlant sie beschreibt, die weisse Taube, die am Rücken Afrikas hängt. Die Liste der berühmten Schriftsteller, Künstler und Musiker der Beat Generation ist lang. Dazu kommen marokkanische Schriftsteller wie Mohamed Chukri, die Tanger den Städten im Landesinnern vorziehen. Ich persönlich kam aus beruflichen Gründen nach Tanger. Tagesausflüge nach Afrika ab der spanischen Costa del Sol waren damals wie heute beliebt, weshalb auch meine Agentur entsprechende Reisen veranstaltete. Später wurden auch Kulturreisen innerhalb Marokkos und Kombireisen zwischen Andalusien und dem Maghreb angeboten. Mehrere Jahre durfte ich in Tanger leben und habe die Stadt wie ein Einheimischer erlebt. Während dieser Zeit, im Jahre 2006, habe ich mich an eine Erzählung über und um Tanger gewagt, die bis heute nicht veröffentlicht wurde – das möchte ich nun gerne nachholen. Träumen Sie mit mir von Tanger, der Stadt von Matisse.

Vorwort
Vielleicht ist es die Pflicht eines Gastes, sein Gastland mehr zu lieben als seine Gastgeber. Vielleicht ist es für einen Fremden ein Muss, die Geschichte und die örtlichen Gegebenheiten, die Kunst und Kultur zu studieren, um seine neu gewonnenen Freunde besser zu verstehen. Vielleicht ist es der Stolz eines Fremden, den Einheimischen zeigen zu können, dass nicht nur das Klima und die Sonne ihn in ein fremdes Land, weit weg von seiner Heimat, getrieben haben.
Dank einschlägiger Reiseliteratur erkennt der Reisende von heute auf einfache Art und Weise die Eigenheiten des Landes, das er als neue Heimat auserwählt hat. Er mischt sich unter die Einheimischen und versucht, so viel wie möglich von ihnen zu erfahren. Doch der Wissensdurst ist damit nicht gestillt und die auf dem heutigen Markt erhältlichen Reiseführer und das Internet können da nicht mehr viel weiterhelfen.

Selbstverständlich haben bereits viele vor dem heutigen Reisenden das Gleiche bemerkt und sich die gleichen Fragen gestellt. Wer in Bibliotheken und im Internet stöbert, entdeckt, dass nicht nur Franzosen und Spanier damals versuchten, Marokko zu entdecken. Auch das Deutsche Reich hatte seine Pläne für den Nordwesten Afrikas. Reiseschriftsteller, Diplomaten, Militärs, Kaufleute und Forscher aus dem deutschsprachigen Europa fuhren über die Meerenge von Gibraltar nach Tanger. Von hier aus versuchten viele, ein neues Leben anzufangen; andere verloren ihr Leben in diesem Land, das vor nur hundert Jahren für viele Wissenschaftler unbekannt war wie zum Beispiel das ferne Südamerika.

In diesem Buch möchte ich versuchen, die alten deutschsprachigen Reisenden wieder aufleben zu lassen. Dabei habe ich keine Nachforschungen angestellt, inwieweit ein Roman der Wahrheit entspricht und wie viel ein Forschungs-reisender übertrieben hat. Auch habe ich die Aussagen der deutschfreundlichen Berichte nicht mit den damaligen französischen und englischen Tageszeitungen verglichen. Stattdessen habe ich versucht, eine Zusammenfassung zu schaffen, um bei den Lesern nicht nur das Interesse an Marokko zu wecken, sondern auch die reiche und vergessene Geschichte des Landes Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Erinnerung zu rufen. Vielleicht erkennen die Leser dank dieses Buches, dass Marokko nicht gleichbedeutend mit Arabern ist und der Koran nicht nur die Religion von Terroristen ist.

Ein weiterer Sinn besteht darin, dass vielleicht das eine oder andere zitierte Buch wiederveröffentlicht wird und somit einer grösseren Leserschaft zugänglich wird und nicht nur den in Antiquariaten stöbernden Interessenten vorbehalten bleibt.
Ich verspreche, dass ich weitere Bücher wie das vorliegende erarbeiten werde, wenn mir ein Buch lieb geworden ist und dessen Beschreibungen mein tiefes Interesse geweckt haben.
Vieles, was auf den folgenden Seiten vor hundert Jahren erzählt wird, kann der Reisende noch heute im
21. Jahrhundert entdecken. Marokko wartet auch auf Sie.

Tanger, im Sommer 2006 

1. Kapitel auf der Fähre
Die Überfahrt vom spanischen Algeciras zum Tor Afrikas dauert eine Stunde. Tanger liegt an der Meerenge, die eher zur atlantischen Westküste gehört als zum Mittelmeer. Aufgrund der Strömungen aus dem Atlantik ins Mittelmeer und der stetigen Winde ist die Überfahrt selten glatt. Die Fähren ab Algeciras fahren zunächst entlang der spanischen Küste bis nach Tarifa und wenden dann direkt auf Tanger zu. In umgekehrter Richtung ist eine direkte Durchquerung möglich, da die Schiffe dann mit der Strömung schwimmen statt gegen sie. Die heutige Schifffahrtsstrasse führt zunächst entlang der marokkanischen Küste, um dann auf Höhe des spanischen Ceuta in die Bucht von Gibraltar einzuschwenken.

Während ich in der modernen Fähre sitze, denke ich an meinen Grossvater, der vor rund hundert Jahren die gleiche Strecke zurücklegte. Vielleicht fuhr er im Frühjahr 1903 mit dem britischen Raddampfer "Magnus" von Gibraltar ins damals noch wenig bekannte Marokko. Das Einschiffen erfolgte zu dieser Zeit mit kleinen Gondeln, da die Schiffe mangels Handelshäfen in Gibraltar und Tanger in der Reede ankerten und nicht wie heute an einem Kai anlegen konnten. Die Schiffe waren damals klein und für die Sturmperiode schlecht ausgerüstet, sodass die Überfahrt für die Passagiere auf diesen oft noch mit Vieh und Geflügel beladenen, wenig sauberen Schiffen eine Qual war. Auch heute noch ist die Seekrankheit auf dieser Strecke stärker ausgeprägt als auf Kreuzfahrten über offenes Meer.

Mein Grossvater väterlicherseits, Albert wurde am 17. Juli 1887 als erster und einziger Sohn eines Schweizer Leutnants in Thun geboren. Mein Urgrossvater war bis 1882 dem Bataillon 46 des Infanterie-Regiments 16, der Infanterie-Brigade 8 und der 4. Division zugeteilt. Auf Wunsch der Luzerner Regierung und aufgrund von Rekrutierungsschwierigkeiten wurde das Bataillon jedoch im Jahr 1882 aufgelöst. Mein Urgrossvater wurde daraufhin nach Thun versetzt, wo er am 24. Juli 1886 Josefine Aloisia Brunner heiratete. Ein Jahr nach der Geburt meines Grossvaters kam sein Bruder Gottlieb Walter zur Welt, der jedoch im Alter von knapp drei Monaten starb. Somit ruhte der gesamte männliche und militärische Stolz auf meinem Grossvater.

Seine erste Erinnerung an die heldenhafte Gestalt seines Vaters geht auf den September 1890 zurück. Damals besetzten die Radikalen bei einem Putsch im Tessin alle staatlichen Gebäude und nahmen den konservativ zusammengesetzten Staatsrat gefangen. Im Auftrag des Bundes stellten zwei Berner Bataillone und einige Reiter die Ordnung wieder her. Aufgrund des Wahlausgangs vom 22. Oktober kam es zu lautstarken Schiessereien zwischen den radikalen Luganesen und den konservativen Dorfbewohnern der Umgebung. Das Militär musste auf der Piazza della Riforma mit gefälltem Bajonett einschreiten, um die Menge zu zerstreuen und der Schießerei Einhalt zu gebieten. Doch die Soldaten wurden mit Steinen und Schimpfworten beworfen. Ein Blutvergiessen schien unvermeidlich. Da stellte sich ein protestantischer Feldprediger zwischen Volk und Truppe. Als der Rückzugsbefehl von höherer Stelle kam, höhnte die Menge den abziehenden Soldaten hinterher: "Maledetti Lucernesi!" und "Brutti militari federali!". Am kommenden Tag berichtete die "Neue Zürcher Zeitung":

"...Die Soldaten waren allzurasch im Gebrauch der Waffe; sie verletzten ohne Noth ganz unbeteiligte Personen. Gewiss hatte die Bevölkerung und hatten die Kanoniere Unrecht; aber auch die Truppe handelte vorschützig, indem sie sich auf eine unbewaffnete Volksmenge warf und friedliche Leute mit dem Bajonett angriff, während sie ihren Zweck erreicht hätten, wenn sie mit größerer Mäßigung vorgegangen wären. Das gute Einvernehmen zwischen Einwohnern und Soldaten ist nun natürlich gestört...."

Doch Ende gut, alles gut! Am 30. Oktober holte die Stadtmusik unsere Soldaten am Bahnhof ab.
Der freisinnige Nationalrat Künzli lobte ihren Einsatz, und der von der Regierung spendierte Trunk war durchaus verdient.

Doch der heranwachsende Albert wollte nichts vom Militär wissen und erst recht nicht der militärischen Laufbahn seines Vaters folgen. Am Abend vor seinem 14. Geburtstag und seinem Eintritt in den militärischen Vorunterricht, der der männlichen Jugend die Möglichkeit bot, sich im Turnen und Schiessen zu ertüchtigen, fasste er den Entschluss, Hals über Kopf das elterliche Haus zu verlassen, um sein eigenes Abenteuer zu suchen. Die sommerliche Wärme, die milden Nächte und die regenarmen Julitage halfen ihm, in wenigen Wochen seinen Weg aus den Tälern des Berner Oberlandes über die Alpen ans Meer zu finden. Vom kleinen Thunersee ans riesige Mittelmeer!

2. Kapitel Ankunft
Nun ist meine Fähre am Wendepunkt angelangt und die spanische Küste weicht dem zum Atlantik hin offenen Meer. Mein Grossvater hat sich zwei volle Jahre auf Frachtern verdingt und die Meere abgefahren. Keiner weiß genau, wo er überall war. Nicht einmal er selbst wusste, welche Häfen seine Schiffe angelaufen sind. Als Küchenjunge durfte er nur selten an Land, aber in irgendeinem Hafen wurde es ihm zu viel und seine Abenteuerlust wollte neue Welten entdecken. Vielleicht war es Zufall, vielleicht war es Schicksal, dass es ausgerechnet der Hafen von Gibraltar war, der ihn dem Frachter entriss. Unter den Engländern hielt er es nur wenige Tage aus. Die Möglichkeit, in wenigen Stunden einen unbekannten Kontinent zu erreichen, reizte ihn. Eines schönen Tages nahm er die Fähre und fuhr den gleichen Weg, den ich heute nahm. Raus aus der Bucht von Gibraltar, entlang der spanischen Küste nach Tanger.

Mit einem Zeitunterschied von nur hundert Jahren fahren unsere Schiffe in die grosse Bucht von Tanger ein. Vor uns, auf der rechten Seite, hebt sich am Berghang die weisse Häusermasse ab. Ein typisches Bild für die mit Kalk weiss getünchten Häuser maurischer Art. Vor uns liegt die Medina, die Altstadt von Tanger. Ihre Minarette überragen die Häuser und geben der Stadt ein besonderes Flair. Auf der linken Seite des Hafens zieht sich eine lange Sandfläche, der halbkreisförmige Strand, hin. Im Hintergrund sehen wir die Neustadt, grüne Hügel und die hohen Berge der Ausläufer des Rifgebirges.

Die Passkontrolle habe ich bereits auf der Fähre hinter mich gebracht. Beim Aussteigen wird der Pass noch einmal kontrolliert, dann nimmt mich der einzigartige Duft Afrikas, vermischt mit der feuchten Luft einer Hafenstadt, in Empfang. Nur vierzehn Kilometer trennen den afrikanischen Kontinent von Europa. Nur eine Fahrstunde von Spanien entfernt sind wir. Und doch ist es eine ganz andere Welt. Ein "Petit-Taxi" fährt mich durch die am Zoll wartenden Lastwagen. Es geht auf holprigen Strassen in einem holprigen Fiat Uno entlang des Strandes in die Neustadt zu meinem Hotel. Ich wollte keines der in vergangenen Zeiten berühmten Pensionen buchen. Denn auch sie haben bessere Zeiten erlebt. Für die ersten Tage wollte ich ein modernes Hotel vorziehen, denn es warten genügend fremde Eindrücke auf mich.

Was hat mein Vorfahre wohl damals empfunden?
Sein Raddampfer, der kaum sechs Meter Tiefgang gehabt haben kann und daher nicht Gefahr lief, auf dem sandigen Grund aufzulaufen, legte nur ein paar hundert Meter vom Land entfernt an. Neben dem kleinen, scherifischen Regierungsdampfer Turki, der für Truppentransporte an der Küste und zu Beobachtungszwecken diente, wurde Anker geworfen. Sein Kommandant war der Deutsche Kapitän Leonhard Karow, der neun Jahre in marokkanischen Diensten gestanden hatte.
Die Boote der Araber stürmten heran. Sie mussten jedoch warten, bis der Sanitätsbeamte, der mit einer Barke der Schiffsagentur angekommen war, die Schiffspapiere überprüft und freie Praxis erklärt hatte. Doch der Beamte hisste die gelbe Flagge. Das Schiff wurde in Quarantäne gelegt. In Gibraltar wurde bei der Abfahrt in aller Eile noch eine Kiste, ein Sarg mit einem toten Marokkaner, der nicht in christlicher Erde schlafen wollte, an Bord gerudert. Der britische Agent vergass offenbar, die Sanität in Tanger zu benachrichtigen. Nach drei Stunden waren die Papiere jedoch geregelt und der orientalische Rummel konnte losgehen. Die Barken legten an. Es entsteht der altbekannte Lärm zwischen den Einheimischen, von denen jeder sein Boot zuerst an der Treppe haben will. Passagiere und Gepäck gleiten in die Gondeln. Es wird zum Brückensteg gerudert. Bei unruhiger See kann dies nochmals zu einem kleinen Abenteuer werden. Auf dem Brückensteg angekommen, musste man für 1 Real ein Ticket lösen, das am Ende des ungefähr 200 Meter langen Stegs, also an Land, wieder abgenommen wurde. Das Gepäck wurde auf einem Rollwagen auf Schienen zum Ausgang transportiert. Die ankommenden Reisenden erreichen ein Mauergebäude mit dem marokkanischen Zollamt, das unbehelligt passiert wird. Dahinter packte ein einheimischer Träger den ganzen Kram des Reisenden auf seinen Esel und kletterte damit auf schlecht gepflasterten Wegen und zwischen Mauern zum Hotel in die Stadt hinauf. Erst in der Hotelhalle konnte der Reisende endlich wieder aufatmen. Er konnte die Hektik vergessen und die Ruhe des arabischen Innenhofs mit seinem ruhig vor sich hinplätschernden Wasserbecken geniessen. Die sich hinter ihm schließende Glastür ist wie ein Vorhang, der zwei Welten trennt. Hinter ihr kann man sich von den ersten Eindrücken des farbenfrohen Geschehens, den unzähligen unbekannten Düften und dem unverständlichen Geschrei erst einmal bei einem Glas Whisky erholen.

3. Kapitel Erste Eindrück
Es hält mich nicht lange im Hotelzimmer. Entlang des Strands spaziere ich zurück zum Hafeneingang. Ich suche die alte Zollstelle. Durch ein Tor betrete ich die Medina und steige die Strasse hoch. Zu meiner Linken erblicke ich die alte Grosse Moschee der Stadt. Bald erreiche ich den Platz "Socco Chico", den Kleinen Markt. Ich setze mich auf die Terrasse eines der drei Cafés und bestelle einen Minzentee. "Nicht zu süß, bitte!"
Hier auf diesem Platz sass auch mein Grossvater in Begleitung des deutschen Reiseschriftstellers Siegfried Genthe aus Berlin. Genthe reiste im Alter von 22 Jahren durch Indien, verfasste verschiedene Zeitungsartikel für das "Hamburger Tagblatt" und arbeitete später für die "Kölnische Zeitung" in New York, Washington und auf Samoa. Danach schickte ihn die Zeitung zur Berichterstattung über den Chinakrieg nach China. Er schrieb eine Serie von Artikeln aus China, die allesamt äusserst wertvolle, auf reichen historischen Kenntnissen basierende und durch geistreiche sowie unbefangene Auffassung hervorragende Schilderungen waren. Nach dem Krieg wurde er von derselben Zeitung nach Korea geschickt. Genthe durchquerte die Halbinsel auf entlegenen Pfaden vom Westen nach Osten. Von Korea aus reiste er mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Moskau und kehrte nach einer fünfjährigen Abwesenheit nach Deutschland zurück. Doch schon bald, im Frühjahr 1903, wurde er nach Marokko geschickt.

Mein Grossvater beobachtete den interessanten Mann schon auf dem Schiff, traute sich als Jüngerer aber nicht, das Wort an den Älteren zu richten. Hier, am gleichen Tisch in einem der europäischen Cafés neben den drei Postämtern – dem britischen, dem spanischen und dem deutschen – scheint es angebracht, sich vorzustellen: "Guten Tag, entschuldigen Sie die Störung, mein Name ist Albert Stauffer aus der Schweiz." Sind Sie auch zum ersten Mal in Marokko? Wie sind Ihre ersten Eindrücke von dieser pulsierenden Stadt?"
Was Genthe meinem Grossvater zu erzählen wusste, wurde erst nach dessen Raubmord in der Nähe der Stadttore von Fès am 8. März 1904 in einem Buch veröffentlicht.

"Mein lieber junger Schweizer Freund. Tanger darf sich wohl rühmen, von allen Mittelmeerhäfen der unberührteste, der am wenigsten vereuropäerte zu sein. Wie mehr als die Hälfte der ganzen Küstenlänge unseres europäischen Binnenmeeres ist ja von mohammedanischen Ländern eingefasst, die mit ihren fremdartigen Lebensformen einen eigenartigen Reiz bewahren und so viel zu der fesselnden Buntscheckigkeit dieses nächsten Orients beitragen. Aber der ungemein rege Verkehr zwischen den umgebenden Ländern, der das Mittelmeer zum befahrensten Gewässer der Welt macht, hat natürlich das unvermeidliche Eindringen europäischen Einflusses und europäischer Äußerlichkeiten zur Folge gehabt. In den türkischen und ägyptischen Häfen überwiegt schon jetzt in Bauart der Häuser und Kleidung der Bewohner das Europäische, und nicht viel besser steht es damit in den algerischen Küstenplätzen und selbst denen von Tunis und Tripolis. Mit ihnen verglichen ist Tanger wirklich noch so echt, als ob es erst vor wenigen Jahren entdeckt wäre und nicht eine der ältesten geschichtlichen Niederlassungen, von denen wir in diesem Teile des Mittelmeeres beglaubigte Kunde haben. Für die in Marokko ansässigen Fremden allerdings bedeutet Tanger den Gipfel der Zivilisation, den vielgeliebten, Europa nächsten Ort, wo man alles findet, was man als Zeitgenosse des zwanzigsten Jahrhunderts zum Leben braucht: Gasthäuser mit sprachgewandten Kellnern, Zeitungen, die nicht nur englisch lispeln, wenn sie lügen (Goethe), sondern auch französisch und spanisch. Kirchen und Kapellen dreier Bekenntnisse, Tennisplätze, Gesandtschaften und Konsulate von mehr als einem Dutzend Staaten. Postanstalten und Telegraphenämter, Banken, unzählige Kneipen, Läden aller Art, ja sogar Fernsprecher und elektrische Straßenbeleuchtung. Das ist wirklich staunenswert viel für eine marokkanische Stadt, und selbst, wenn man in den Läden nie findet, was man gerade braucht, und die elektrische Beleuchtung gerade immer dann und dort versagt, wo sie am nötigsten ist, so wird man doch willig anerkennen: Der Anfang ist gemacht und ist verheißungsvoll.

Zwar wenn man eben ankommt in im dem in südlichen Ländern üblichen ohrenzerreißenden Getöse der Lastträger, Ruderknechte, Fremdenführer, Dolmetscher und Lohndiener endlich sein Gepäck zusammengebracht und den ländlich bescheidenen Landungssteg, der übrigens auch erst seit 1897 als rühmliches Denkmal des Fortschritts den Hafen ziert, betreten hat, dann will man doch nicht so recht an die große Kultur glauben, die nach den Versicherungen der unendlich redeeifrigen Abgesandten der sich im Wettbewerb bekämpfenden Gasthöfe im Städtchen herrschen soll. Höchst einfach, etwas anders, als man es in einer werdenden Weltstadt erwartet, vollziehen sich Ausschiffung, Landung und Zollprüfung. Die lärmenden Lastträger, die von der bekannten stoischen Ruhe des Morgenländers auch nicht die bescheidensten Vorkenntnisse zu haben scheinen, entreißen einem alles, was man mühsam von seinem Gepäck um sich versammelt hat, und im Sturmschritt toben sie damit den Landungssteg hinunter und hinauf zur Stadt."

Marokko – Reiseschilderungen
Sammlung belehrender Unterhaltungsschriften für die deutsche Jugend, Band 19.
Herausgegeben von Hans Vollmer, Berlin, Verlag von Hermann Paetel, 1906

"Camarero, noch zwei Tee, bitte! Sie haben den ganzen Trubel ja selbst miterlebt, als Sie wie ein kleiner verstörter Junge hinter mir den Zoll durchliefen. In fremden Ländern muss man mit erhobenem Kopf umhergehen, sonst glauben die Einheimischen, man sei leicht zu übervorteilen und sie könnten sich schnell ein paar Mark extra verdienen. Wenn Sie in Marokko überleben wollen, benehmen Sie sich wie ein europäischer Herr, lernen Sie die Gepflogenheiten des Landes kennen und passen Sie sich den Sitten der Bevölkerung an."

"Gleich am Eingang, am Bab el Marssa, dem niedrigen, starkgemauerten Hafentor, hat die Seezollverwaltung des Sultans ihren Sitz. Unter kühlen Gewölben sitzen sehr würdevoll mit untergeschlagenen Beinen, in weiten luftigen Gewändern, ein paar eisgraue Mummelgreise; sehr im Gegensatz zu den lärmenden Packträgern lassen sie sich nicht im mindesten aus der Fassung bringen durch die Ankunft der zahlreichen, mit uns gleichseitig den Dampfer verlassenden Reisenden, deren Gepäck untersucht werden muss. Vielleicht lassen sie sich mehr aus ihrer Ruhe aufstören, wenn große Frachten und Warenladungen durch den Zoll gehen sollen, von denen sie nach den Handelsverträgen gleichmäßig 10 Prozent vom Wert erheben müssen. Denn das ist die wichtigste, und vor allem die regelmäßigste Einnahmequelle des Landes.

Wie die meisten Häfen der nordwestafrikanischen Mittelmeerküste, liegt Tanger auf einem kleinen, hochragenden Vorgebirge, das den Eckpfeiler einer flachen, schöngerundeten Bucht bildet. Das ist nicht nur eine höchst malerische, sondern militärisch auch sehr günstige Lage. Und wenn ein guter Ankerplatz dazukommt, wie hier in Tanger, das für den besten Hafen ganz Marokkos gilt, dann kann man allein aus diesen geographischen Lageverhältnissen dem Ort eine große Zukunft voraussagen. Zwar kann man eigentlich von dem Hafen nicht viel Rühmens machen. Die Bucht ist nach Nordwesten geöffnet und bietet gegen die vom Ozean kommenden nördlichen Winde keinen Schutz. Zudem sind zurzeit die Anlagen für Landung und Löschung der Frachten noch gänzlich unzureichend, da außer dem schalen hölzernen Steg nichts vorhanden ist, was den Hafenverkehr erleichtert. Im 17. Jahrhundert war das eine Zeitlang anders. Bekanntlich erwarb Karl II von England bei seiner Verheiratung mit der portugiesischen Prinzessin Katharina von Braganza, einer Tochter König Johanns VI, außer einer gehörigen Mitgift in rotem Golde die bisherigen portugiesischen Kolonien Bombay und Tanger. In England begrüßten die weitschauenden Kaufleute und leitenden Politiker den Besitz dieser Mittelmeerpforte mit lautem Jubel. Der König selbst erklärte im Parlament, Tangiers sei ein Juwel von ganz unschätzbarem Werte im Krongeschmeide, und seine Minister waren der Ansicht, der neue Besitz wiege alle anderen überseeischen Besitzungen Englands auf. Mit Eifer ging man an den Ausbau und die Befestigung des damals noch sehr kleinen Orts. Die einheimische Bevölkerung war ganz gering, aber die Verlegung eines ganzen Regiments Besatzung in die von den Portugiesen übernommene Festung ließ bald Hunderte von Engländern, Juden, Spaniern und Italienern hierher strömen. Ungeheure Summen wurden für Festungsbauten ausgegeben, Kirchen, Schulen, Waisenhäuser wurden gegründet, kurz alles in größtem Maßstabe angelegt wie für einen Ort unzweifelhafter Zukunftsgröße. Die kostspieligste Anlage wurde ein prächtiger Hafendamm, der 400 m weit in die See hinausgebaut wurde. Auf seiner stattlichen Breite von 25 m erhoben sich Häuser und zierliche Pavillons, und gegen 1000 Geschütze waren auf der ganzen Länge zu beiden Seiten aufgefahren, die, von einer Kompanie Kanonieren bedient, eine fast ununterbrochene Kanonade zur Begrüßung der ein- und auslaufenden und vorbeifahrenden Schiffe unterhalten mussten.

Leider entsprach diesen glänzenden Anfängen aber die weitere Entwicklung der neuen Kolonie durchaus nicht. In jenen ersten Tagen überseeischer Betätigung schien man in England die auch heute ja noch nicht überall ausgestorbene Anschauung zu haben, für den Dienst über See seien die Schlechtesten gerade gut genug. So kamen die allerbedenklichsten Gestalten nach Tanger, selbst die Beamten bis zum Statthalter hinauf waren nicht besser als die zuchtlose Rotte der unregelmäßig bezahlten Besatzungssoldaten, und schließlich waren die Zustände derart, dass im Hause der Gemeinen alle weiteren Bewilligungen für den kostspieligen Besitz verweigert wurde. Tanger wurde den Mauren zurückgegeben, nachdem mehr als 30 Millionen nutzlos ausgegeben waren. Zum Überfluss wurden auch noch alle Bauten, Festen, Kirchen, Wälle und Schanzen zerstört, und auch der schöne Hafendamm wurde in die Luft gesprengt, Mit diesem kleinlichen Vernichtungswerk fand 1684, nach 22 jähriger Misswirtschaft, die englische Herrschaft an der marokkanischen Küste ein unrühmliches Ende.

Außer ein paar Trümmern des großen steinernen Hafendammes hat die englische Herrschaft kaum Spuren in der Stadt hinterlassen; ebensowenig die der Portugiesen, die fast zwei Jahrhunderte lang vor den Engländern hier gehaust und unter anderem nicht weniger als 17 Kirchen und Kapellen errichtet hatten. Auch sie zerstörten bei ihrem Abzug gewissenhaft die Früchte ihrer Tätigkeit, und derselbe Geist kleinlicher Eifersucht scheint jedes Mal gewaltet zu haben, wenn die unglückliche Stadt ihren Besitzer wechseln musste. Und das geschah unzählige Male. Nach den Tagen der Engländer kamen mit wechselndem Geschick Kämpfe zwischen mauren, Spaniern und Portugiesen, nur eine Fortsetzung der häufigen Kriege, deren Gegenstand die nordmarokkanische Küste seit dem Beginn der überlieferten Geschichte gewesen ist. Von den sagenhaften Zeiten an, wo die Erzählungen von den Säulen des Herakles und den Gärten der Hesperiden entstanden, bis in unser 20. Jahrhundert hinein ist Marokko, zumal seine Mittelmeerküste, nicht zur Ruhe gekommen. Der landwirtschaftliche und, wenigstens vermutete und wahrscheinliche, bergmännische Reichtum seines Bodens und die ungewöhnliche Gunst der Lage haben eben dieses Land, das ein irdisches Paradies sein könnte, zum Schlachtfeld bestimmt, worauf sich Gegnerschaften und Nebenbuhlereien von großen und kleinen Völkern austoben müssen. Aber es muss schon arg kommen, bis ein Land wirklich vernichtet ist. Wenn auch von den glanzvollen Tagen der Römer, die in Tingis die Haupotstadt ihrer Provinz Mauretania hatten, außer einigen Tempelresten im Innern und ein paar über das Land zerstreuten Brückenpfeilern und Marmorsäulen nichts übriggeblieben ist als der noch im Munde des Volkes lebender Name der Rumi als der Urheber aller merkwürdigen, rätselhaft festen Steinbauten, wenn auch Goten und Vandalen, Spanier Portugiesen und Engländer nur ganz geringfügige Spuren ihrer Herrschaft im Lande zurückgelassen haben: Land und Volk selbst leben und sind noch ungebrochen, sind gesund und entwicklungsfähig und einer großen Zukunft gewiss, sobald sie von der wie ein Alp auf dem Lande lastender Herrschaft befreit sind, durch die barbarische Blutsauger und beschränkte Geistliche die gesunde Entwicklung unterdrückt und noch auf lange Zeit hinaus lahmgelegt haben.

Wie ein Sinnbild dieser langen, wechselreichen Geschichte liegt Tanger am Eingang des unglücklichen, gewaltsam niedergehaltenen Landes, anstatt einer freien, blühenden, glänzenden Handelsstadt, wie sie der Haupthafen und natürlich Eingang eines reichen Landes sein sollte, ein kleines schmutziges Nest, das keine Spuren seiner größeren Tage mehr ausweist, und auf dem armseligen Gewande seiner mohammedanisch-marokkanischen Verkommenheit nur allzu sichtbar und unvermittelt die grellen Flicken fremden neuen Stoffes zur Schau trägt. (Buch Marokko Reiseschilderungen, Seite 8 bis 16)

"Mein lieber Freund, wie Sie sicher bereits bemerkt haben, ist der Herd aller Nachrichten, neuigkeiten und Meldungen der Kleine Markt, auch Socco Chico genannt, wo wir uns gerade befinden und gemütlich Tee trinken."

Hier war und ist bis heute der Mittelpunkt der Altstadt. Es ist eine unbedeutende Erweiterung der Hauptstrasse, die vom Hafen hoch und durch das Fez-Tor auf den ausserhalb der Stadtmauern gelegenen Hauptmarkt führt. Hier befanden sich neben den Postämtern auch die Zweigstelle der "Comptoir National d'Escompte de Paris", die später von der "Banque d'État du Maroc" übernommen wurde und heute das Lagerhaus eines der vielen Bazare der Stadt ist. Von den damals zwei Cafés sind es inzwischen drei geworden. Die umliegenden Kneipen, Gasthäuser, später Kinos und Hotels sind hingegen verschwunden, wurden geschlossen oder sind völlig heruntergekommen. Gemäss den Beschreibungen Genthes sah es auch damals nicht besser aus. 

"Da so ziemlich jeder Weg, den man in der Stadt machen kann, schließlich einmal auch über den Socco Chico führt, und da jeder Tangerer, der überhaupt das Haus verlässt, wohl wenigstens einmal auch seinen Weg über den Socco nimmt, so kann man sich keine ergiebigere Nachrichtenbörse denken, als dieser kleine, von Geschäftshäusern, Postämtern und Kneipen eingerahmte, von Stiefelputzern, Kartenverkäufern, Bettlern, Tagedieben bevölkerte Platz. Von morgens bis spät in die Nacht wird dies Plätzchen von wenigen Metern im Geviert, das nur die höfliche Übertreibung des Morgenländers einen Markt nennen kann, nicht leer von trinkenden, rauchenden, schwatzenden, feilschenden, faulenzenden Menschenkindern jeder Farbe und Sprache. Was der englische Draht von Gibraltar, der französisch-algerische von Oran und der spanische von Tarifa im Laufe des Tages meldet, was die Karawanenreisenden von Fes und die Maultiertreiber von Marrakech berichten, was sich das Gesinde in den Häusern und die Müßiggänger in den Karawansereien beim Tee und Tabak erzählen, alles strömt hier zusammen, wird hier erörtert, zurechtgestutzt und in vermehrter und verbesserter Auflage weitergegeben, bis es im Kreislauf der Dinge wiederum hierher zurückkehrt, wiederum erörtert, verbessert und vermehrt und weitergegeben wird." (Buch Marokko Reiseschilderungen, Seite 17 und 18)

Siegried Genthe drängte es weiter ins Landesinnere. Er verabschiedete sich von Tanger und zog weiter in die Hauptstadt Fez, um am Palast des Sultans die politische Lage Marokkos aus erster Hand verfolgen zu können.

Das Gebiet der Halbinsel von Tanger mit dem wild-trotzigen, ewig unruhigen Stamm der Andschera wird teilweise zur Dschebala gezählt. Obwohl sie nicht zum Rif gehört, sondern ans Mittelmeer grenzt, dem Rif in allem und jedem verwandt ist, soll sie hier erwähnt werden. Trotz der Nähe zur Regierungsgewalt erkennt diese Kabila selten ein von Mächten bestelltes Oberhaupt an, in den beiden letzten Jahrhunderten überhaupt nicht. Kaum gehorcht sie einem selbstgewählten Führer. Nie vereinigt ein gemeinsamer Kaid die einzelnen Sippen. Nicht selten fliegen verirrte Geschosse über die Schluchten nach Ceuta oder bis zur Playa von Tanger, wenn sie wegen uralter Streitigkeiten in ihren Grenzbergen aneinandergeraten. In Tanger oder Tetouan geht man fast nie in Teebuden von Eingeborenen, ohne von neuen Bluttaten der ewig kampfbereiten Andschera zu hören. So wenig kümmern sich diese nahe bei Städten wohnenden Sippen um Obrigkeit und Vorschrift, dass sie selbst in Tanger Streit beginnen oder austragen. So auch am 16. August 1906, als ein Andschera am Suk el Barra in Tanger seinen Blutfeind traf, der sich aus der Heimat geflüchtet und in die Armee der Regierung eingetreten war. Ohne zu zögern riss der Andschera das Gewehr an die Wange, der Schuss krachte und der Gegner stürzte zusammen. Wieder war Genüge getan dem ungeschriebenen Gesetz der Blutrache. Kameraden des Getöteten nahmen den Kampf auf. Die Andschera, durchweg Männer aus den Unterabteilungen Uled Schott und Bel Aisches, rotteten sich gleichfalls zusammen. Es entspann sich eine regelrechte Schlacht auf dem Marktplatz von Tanger. Erst als Soldaten des Reisuli herbeieilten, zogen die braunen Männer aus den Bergen den Kürzeren. Sie flüchteten zum Strand und ostwärts in ihre Berge, nachdem sie 16 Tote zurückgelassen hatten.
(Buch Marokko Reiseschilderungen, Seite 17 und 18)